Politik - Meinung

Vielfalt oder Alibi?

von Willi Egloff 6. Oktober 2023

Nationale Wahlen 776 Personen kandidieren im Kanton Bern für den Nationalrat. Die dadurch demonstrierte Vielfalt besteht aber nicht real. Denn wirkliche Wahlchancen haben nur Kandidat*innen auf 8 der 39 eingereichten Listen.

Eigentlich kandidieren im Kanton Bern nur vier Parteien: Sie heissen SVP/FdP, SP/Grüne, Mitte/GLP/EVP und EDU. Unter diesen vier Parteien werden die dem Kanton zustehenden 24 Sitze aufgeteilt.

Massgebend für die Sitzverteilung ist nämlich nicht das Ergebnis der einzelnen Listen, sondern dasjenige der jeweils miteinander verbundenen Listenblöcke. Dabei kann das Ergebnis schon heute mit einiger Sicherheit vorausgesagt werden: Die Partei SVP/FdP wird 8-10 Sitze erhalten, die Partei SP/Grüne 7-9, die Partei Mitte/GLP/EVP 5-7, die EDU einen oder keinen. Ein politisches Erdbeben, das an dieser Sitzverteilung etwas ändern könnte, ist nicht in Sicht.

Verteilung innerhalb der Blöcke

Weniger klar voraussehbar ist, wie diese Sitze innerhalb der Blöcke auf die daran beteiligten Parteien aufgeteilt werden. Allerdings sorgt auch diesbezüglich das Wahlsystem dafür, dass grosse Überraschungen nicht eintreten können. So ist beispielsweise klar, dass jemand nur gewählt werden kann, wenn seine oder ihre Liste entweder innerhalb ihres Blocks die stärkste ist oder wenn sie für sich allein auf einen Stimmenanteil von 4,2% kommt. Soviel ist nämlich erforderlich, um einen der 24 bernischen Sitze zugewiesen zu erhalten. Alle Kandidat*innen, die auf Listen kandidieren, die weder die eine noch die andere Voraussetzung erfüllen, werden daher mit Sicherheit nicht in den Nationalrat gewählt.

Konkret bedeutet dies, dass von den 39 im Kanton Bern angemeldeten Listen 31 von vornherein keine Wahlchance haben. Kandidat*innen auf diesen Listen mögen als Personen ein noch so tolles Ergebnis erzielen, sie können nicht gewählt werden, solange ihre Liste nicht die erforderlichen 4,2% der Gesamtstimmen erreicht. Die Vielzahl der Listen täuscht daher eine Auswahl und eine Vielfalt von Kandidat*innen vor, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Oder anders gesagt: wer eine dieser Personen wählt, gibt seine Stimme zwingend für eine andere Liste innerhalb des gleichen Blocks ab.

Die Vielzahl von Wahllisten hat aufgrund des geltenden Wahlsystems keinerlei inklusiven Effekt.

Als Beispiel für diesen Effekt mag hier die Grünliberale Partei dienen: 2019 trat sie mit drei unter sich verbundenen Listen an, dieses Jahr sind es nicht weniger als neun solche Listen. Schon 2019 erreichte einzig die Hauptliste mit 7,4% die erforderlichen 4,2%, und sie erhielt dafür zwei Sitze. Die beiden Zusatzlisten lagen je knapp über 1% und gingen folglich leer aus. Die dort kandidierenden Personen können auch beim Rücktritt einer gewählten Person nicht nachrücken, weil sie eben auf einer andern Liste kandidiert haben. Wenn sich nun diese Zusatzstimmen von 2019 auf acht verschiedene Listen aufteilen, so ist erst recht klar, dass keine davon die Hürde von 4,2% überschreiten wird. Wer also irgendeine Person auf irgendeiner dieser GLP-Zusatzlisten wählt, der stimmt faktisch immer nur für die Hauptliste.

Die Vielzahl der Kandidaturen dürfte dabei sogar einen ausgrenzenden Effekt haben: Wer etwa als  Anhänger*in der Mitte-Partei den landwirtschaftlichen Flügel der Partei stärken möchte, darf nicht für die «Landwirtschaftsliste der Mitte» stimmen, weil von dieser Liste mit Sicherheit niemand gewählt wird. Er oder sie muss vielmehr auf der «Mitte Hauptliste» die drei oder vier Landwirtschaftsvertreter*innen unterstützen. Wer die Vertreter*innen sexueller Diversität innerhalb der grünliberalen Partei unterstützen will, muss nicht die «Grünliberalen Queers & Allies» wählen, sondern die nicht deklarierten Queers auf der GLP-Hauptliste, weil nur diese eine wenigstens theoretische Chance haben, in den Nationalrat gewählt zu werden. Die Vielzahl von Wahllisten hat also aufgrund des geltenden Wahlsystems keinerlei inklusiven Effekt, sondern sie bewirkt eher das Gegenteil.

Falsche Verbündete

Das erscheint alles als nicht so schlimm, wo wenigstens die politischen Inhalte der verschiedenen Listen einigermassen übereinstimmen. Problematisch ist es hingegen dort, wo sich Parteien zu Listenverbindungen zusammentun, welche politisch zumindest teilweise gegensätzliche Agenden verfolgen. Weil das System der Sitzverteilung die grösste Partei innerhalb der Listenverbindung begünstigt, ist nämlich das Risiko gross, dass die Stimmabgabe für eine kleinere Partei im Endergebnis der grösseren zugutekommt.

Die Befürworter*innen einer liberalen Politik riskieren ernsthaft, mit einer Stimme für die FdP die SVP zu stärken

Ganz besonders müssen sich das dieses Jahr die Wählerinnen und Wähler der FdP überlegen. Angesichts der Formschwäche der FdP ist es nicht ausgeschlossen, dass diese einen ihrer beiden Sitze im Nationalrat an die mit ihr verbündete SVP verliert. Es genügt dafür schon der Verlust von etwas mehr als einem Stimmenprozent. Die Befürworter*innen einer liberalen Politik riskieren daher ernsthaft, mit einer Stimme für die FdP die alles andere als liberale SVP-Politik zu stärken.

Ähnliches könnte sich auch im Listenverbund der EDU abspielen. Dort haben sich sieben recht unterschiedliche Gruppierungen zusammen gefunden, die alle für sich allein keinerlei Chance haben, einen der 24 Nationalratssitze zu ergattern. Die EDU versucht mit diesem Bündnis, ihren bisherigen Sitz zu verteidigen, wohl wissend, dass ihre eigene Anhängerschaft dafür nicht ausreicht. Da sie innerhalb dieses Bündnisses der Kleinen und Kleinsten die wähler*innenstärkste Kraft ist, kann dieser Versuch auch durchaus gelingen. Denn jede Stimme für irgendeine Gruppierung innerhalb dieses Bündnisses ist automatisch eine Stimme für die rechtsbürgerliche EDU.

Auf einer dieser Listen kandidiert auch die Berner Stadträtin Simone Machado. Jahrelang kämpfte sie in Bern gegen die polizeiliche Überwachung öffentlicher Räume durch Videokameras. Die EDU hat sich soeben im Grossen Rat dafür eingesetzt, dass solche Videoüberwachungen in Bern auch gegen den Willen der Stadt angeordnet werden können. Und genau dieser Partei will die GAP-Stadträtin nun mit ihrer Kandidatur zu einem Sitz im Nationalrat verhelfen. Mehr politische Verirrung geht wohl fast nicht mehr.

Problematische Listenverbindungen

Das Instrument der Listenverbindung sollte ursprünglich ermöglichen, die Stimmen kleinerer Parteien zu bündeln. In der derzeitigen Ausgestaltung führt es aber zu durchaus problematischen Ergebnissen. Es kann, wie dargelegt, Wahlpräferenzen zu politisch gegenteilig orientierten Parteien umleiten. Je breiter die Listenverbindung, desto weniger ist garantiert, dass das Ergebnis dem Willen der Wähler*innen entspricht.

Die Vielzahl von Listen, wie sie unter anderem im Kanton Bern für die Nationalratswahlen eingereicht wurden, erhöht noch ein weiteres Risiko: Sie kann bewirken, dass bei den Kandidaturen den Wähler*innen eine nicht vorhandene Vielfalt und Offenheit vorgetäuscht wird. In Wirklichkeit wird die Auswahl aber nicht vergrössert, sondern es findet eine Ausgrenzung aus dem effektiven Kampf um die wenigen Parlamentssitze statt. Listenverbindungen verkommen hier zum billigen Alibi.