«Viele Menschen haben schlicht und einfach Hunger»

von Luca Hubschmied 20. November 2018

Vor 30 Jahren wurde die Kirchliche Gassenarbeit Bern gegründet. Seither hat sich einiges verändert, doch die Hilfe für Menschen in prekären Lebenssituationen ist nicht weniger wichtig geworden. Für Christa Ammann, Co-Präsidentin des Vereins, steht fest: «Über den Bedarf lässt sich nicht diskutieren.»

«Die Gassenarbeit ist für mich eine ruhige Insel im Strom des Lebens auf der Strasse», sagt Loki mit einem Lächeln ins Mikrofon. Seit 2004 ist er Klient der Kirchlichen Gassenarbeit Bern, kennengelernt habe er das Angebot über Ratschläge von Kollegen. In der Grossen Halle der Reitschule steht er, gemeinsam mit Roger, einem weiteren Klienten der Gassenarbeit auf der Bühne und erzählt, was diese ruhige Insel für ihn bedeute. Auch Roger stimmt zu: «Ohne die Hilfe der Gassenarbeit stünde ich nicht dort wo ich heute stehe. Über die Gassenarbeit habe ich ein Zimmer vermittelt bekommen und habe es geschafft, mich beim Sozialamt anzumelden.»

Entstanden ist die Berner Gassenarbeit im Jahr 1988 als Reaktion auf Jugendunruhen und offene Drogenszenen in Bern. Nun feiert der Verein das 30-jährige Jubiläum mit einer grossen «Kulturtour», in deren Rahmen zahlreiche Kulturorte in Bern bespielt werden. Am Freitag hat die Kirchliche Gassenarbeit Bern zu Apèro, Gespräch und Essen in die Grosse Halle geladen. Auf der kleinen Bühne steht auch Willy Schäfer, Pfarrer im Ruhestand und einer der Mitbegründer. «Ich habe in den Anfängen der Gassenarbeit viele dramatische Momente erlebt», erzählt Schäfer, «die ersten drei Jahre habe ich vor allem damit verbracht, die finanzielle Unterstützung zu sichern.»

Im Büro und auf der Strasse

Seither hat sich viel getan, die offene Drogenszene ist verschwunden und die Kirchliche Gassenarbeit Bern bietet, auch in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen wie etwa dem Contact-Netz, eine Vielzahl von Unterstützungsangeboten für Menschen, die auf der Strasse leben. Das offene Büro an der Speichergasse 8 ist jeweils dienstags und donnerstags am Nachmittag geöffnet. Hier erhalten die Klienten Essen und Trinken und Zugang zu Computer und Telefon. Daneben arbeitet das vierköpfige Team, das sich 200 Stellenprozente teilt, aufsuchend im Raum Bern, leistet dabei Präventionsarbeit und Schadensminderung. 

Was an dem Anlass in der Grossen Halle deutlich gemacht wird, ist der Bedarf für die Gassenarbeit in Bern. So sagt die Co-Präsidentin des Vereins, Christa Ammann: «Ich schaue zweckoptimistisch in die Zukunft. Über den Bedarf lässt sich nicht diskutieren, wir haben aktuell eine Zunahme an Menschen, die auf der Strasse leben. Es braucht für alle Menschen einen Ort, an dem sie sich wohlfühlen und die Gassenarbeit kann ein solcher Ort sein.» In der anonymen Statistik, die die Gassenarbeit seit einigen Jahren führt, ist diese Zunahme klar vermerkt. Im Jahr 2017 wurden gemäss Jahresbericht ungefähr 1200 Erstkontakte verzeichnet, ein Jahr zuvor waren es noch rund 600. Auch Loki bestätigt dies: «Ich merke, dass immer mehr Menschen auf der Strasse leben. Die Gesellschaft wird zunehmend härter.» 

Die gefährliche Unsichtbarkeit

Finanziell getragen wird die Kirchliche Gassenarbeit Bern von verschiedenen katholischen und reformierten Kirchgemeinden sowie privaten Spenden. Als Vertreterin der römisch-katholischen Kirche Bern und Umgebung ist Gerda Hauck an dem Jubiläumsanlass anwesend. «Was mir heute besonders Sorgen macht, ist die Unsichtbarkeit der Menschen auf der Strasse», meint Hauck «wenn man die Leute weniger wahrnimmt, macht es das auch schwieriger, über Finanzen zu diskutieren.» Marc Henzi, Mitglied des kleinen Kirchenrats der reformierten Gesamtkirchgemeinde Bern betont, dass immer mehr Personen in existenzielle Schwierigkeiten gerieten. «Und die aktuelle politische Situation trägt leider auch nicht viel dazu bei, das zu verbessern.»

Im Team der Kirchlichen Gassenarbeit Bern arbeiten Eva Gammenthaler, Nora Hunziker und Ruedi Löffel im Kontakt mit Klienten und Klientinnen. Seit Mai 2017 ist zudem Barbara Kläsi als Geschäftsleiterin für administrative und organisatorische Belange zuständig. «Die Arbeit auf der Gasse und im offenen Büro funktioniert bereits super», meint Kläsi, «für mich ist nun wichtig, auch hinter den Kulissen tätig zu sein und dem Rest des Teams den Rücken freizuhalten.»

Ruedi Löffel ist seit acht Jahren bei der Gassenarbeit tätig und damit das dienstälteste Teammitglied. Den typischen Alltag als Gassenarbeiter gebe es nicht und genau das mache für ihn auch den Reiz der Arbeit aus: «Unsere Fixpunkte sind die Öffnungszeiten des Büros, daneben sind wir bewusst unregelmässig aufsuchend draussen unterwegs. Wir wollen jeweils aktuell anpassen, wann wir wohin gehen. Das ist beispielsweise davon abhängig, wann andere Institutionen geschlossen sind.»  Seit er bei der Gassenarbeit tätig sei, habe sich einiges verändert, meint Löffel: «Wir haben eine Zunahme von Klienten und Klientinnen erlebt, das könnte damit zusammen hängen, dass unser Büro seit 2011 zentral an der Speichergasse liegt, aber auch damit, dass andere Angebote höherschwelliger geworden sind.»

Bedürfnisse sind rudimentärer geworden

Auch das Spektrum der Personen, die auf die Hilfe der Gassenarbeit angewiesen sind, habe sich verschoben. In letzter Zeit habe man vermehrt mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu tun. «Am Anfang haben wir mit der Gassenarbeit vor allem eine Lücke geschlossen und waren für Menschen da, die sich sonst an keinem anderen Ort Hilfe holen konnten», erklärt Löffel, «mittlerweile sind die Bedürfnisse rudimentärer geworden. Viele Menschen haben schlicht und einfach Hunger.» Die Lust an der Arbeit auf der Gasse sei ihm aber in all der Zeit keineswegs vergangen. «Wir haben die Möglichkeit, niederschwellig für alle Menschen da zu sein. Ohne Anmeldungen oder Termine, wie bei anderen Institutionen. Daher haben wir ein ganz anderes Verhältnis zu den Klienten und Klientinnen. Das ist mir besonders wichtig.» 

Die Bedeutung der Gassenarbeit ist nicht kleiner geworden, das hat sich an dem Abend gezeigt. Im Gegenteil, wie die aktuellen Zahlen zeigen, ist der Bedarf nach dieser stationären und aufsuchenden Sozialarbeit heute grösser als zuvor. Und wenn der Druck steigt, dass gewisse Personengruppen im öffentlichen Raum nicht mehr sichtbar sind, so verschwindet auch die Gassenarbeit aus der öffentlichen Wahrnehmung. Es wirkt daher keineswegs polemisch, wenn Ruedi Löffel mahnt: «In Bern fehlt mir teils das gesunde Erinnerungsvermögen. Wir haben es hier geschafft, die Drogenproblematik zu verbessern und nun werden aktuell an allen Orten Gelder gestrichen, bis wir irgendwann wieder in die damaligen Zustände zurückfallen.»