«Viele Eltern und Jugendliche sind am Anschlag.»

von Rita Jost 10. April 2020

In Zeiten des weggebrochenen Alltags können sich Probleme im familiären Umfeld akzentuieren. Das fällt auch beim ambulanten Betreuungs- und Therapieangebot Kontextbern auf. Wir haben mit Geschäftsleitungsmitglied Samuel Steiger gesprochen.

Die Coronakrise ist eine Herausforderung für die ganze Gesellschaft. Besonders schwierig ist die Situation dort, wo der Alltag schon in normalen Zeiten konfliktbeladen war. Zum Beispiel in Familien mit psychisch kranken Mitgliedern, pubertierenden Jugendlichen, gewaltbereiten Eltern. Kontextbern, eine private Organisation für ambulante sozialpädagogische Beratungen und Familientherapie bekommt das zu spüren. Samuel Steiger, Geschäftsleitungsmitglied von Kontextbern spricht von «Riesenherausforderungen», die in den letzten Wochen auf ihn und seine MitarbeiterInnen zugekommen sind. Er sieht aber auch Problemfamilien, die in der Krise ungeahnte Kräfte mobilisieren.

 

Sam Steiger, wie hat die Coronakrise konkret Ihre Arbeit verändert?

Viele Fälle sind intensiver geworden. Wir sind praktisch nonstop am Telefon, weil Eltern mit der Situation überfordert sind. Die Jugendlichen sind viel mehr zuhause, oft unterbeschäftigt und von den Kollegen abgeschnitten. Die Tagesstruktur ist weggebrochen, das bringt viele Eltern und Kinder, beziehungsweise Jugendliche, an den Anschlag.

 

Kontextbern leistet seit Jahren ausschliesslich ambulante und aufsuchende Hilfe. Sie suchen die Ratsuchenden zu Hause auf. Ist das im Moment überhaupt noch möglich?

Wir haben viele Beratungsmandate auf Videotelefonkonferenz umgestellt. Aber ab und zu, in Krisensituationen oder Besuchsrechtsbegleitungen, gehen wir auch jetzt noch zu den Leuten. Selbstverständlich unter Einhaltung aller Hygienevorschriften.

 

Inwiefern haben sich die Probleme verschärft?

Wenn die Kinder oder Jugendlichen den ganzen Tag zu Hause sind, ihre Kollegen nicht treffen können und dafür viel Zeit am Handy verbringen und ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, dann sind viele Eltern überfordert. Viele von ihnen sind ja noch berufstätig, können die Jugendlichen nicht beaufsichtigen oder begleiten. Die Jugendlichen bräuchten aber genau das, denn viele sind es nicht gewohnt, einen Tag selber zu strukturieren, Hausaufgaben selbständig zu erledigen und mit so viel Freizeit sinnvoll umzugehen.

 

Was können Sie anbieten? Wie sieht ihre Hilfe aus?

Ich nenne ein Beispiel. Ich habe soeben für eine Familie einen ganz engmaschigen Tagesplan gemacht. Ich habe praktisch jede Minute von morgens bis abends mit ihnen durchgeplant. Das kann helfen.

 

Wie akut ist die Gefahr von häuslicher Gewalt?

Sie ist in einigen der von uns betreuten Familien sehr gross. Und jetzt sprechen wir nicht nur von Gewalt, die von den Eltern ausgeht. Auch Kinder üben Gewalt aus. Sie erpressen beispielsweise ihre Eltern, manche schlagen auch zu. Viele von ihnen können ihre Aggressionen im Moment nicht mehr mit sportlichen Aktivitäten abreagieren. Das ergibt eine giftige Mischung. Wir befürchten, dass die Gewalt grösser wird, wenn der Zustand noch lange anhält.

 

Das tönt wenig positiv.

Dieser Eindruck entsteht vielleicht. Aber wir müssen auch sagen: wir haben Fälle, da wirkt sich die Krise sogar positiv aus. Eltern und Kinder haben ein gemeinsames Problem, das es zu meistern gilt. Das kann eine ungeahnte Ressource sein. Sie packen es an, und beide Seiten merken plötzlich, dass sie das schaffen. Und noch etwas: wir haben gemerkt, dass es sich jetzt auszahlt, dass wir unsere Leute sehr gut kennen, dass wir sie meist schon seit Monaten betreuen und eine gute Beziehung aufgebaut haben. Darauf können wir nun aufbauen. Das ist für uns eine gute Erfahrung.