Viel guter Wille und eine schwierige Umsetzung

von Luca Hubschmied 15. Dezember 2021

Ein Ausweis für alle Bewohner*innen der Stadt soll Sans-Papiers Zugang zur Gesellschaft ermöglichen. Wie weit ist das Projekt «City Card» in Bern fortgeschritten?

Seit Jahren wird in der Stadt Bern die Einführung einer City Card diskutiert. Die alternative Identitätskarte ist in anderen Städten bereits Realität. So etwa in New York, welches den Ausweis seit 2015 für seine Bewohner*innen bereitstellt. Die dortige «IDNYC» wird – im Gegensatz zu anderen Ausweisen – von der Stadt und nicht einer nationalen Behörde ausgestellt. Sie soll allen Bewohner*innen der Stadt, unabhängig von Aufenthaltsstatus, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Auch in Bern könnte die City Card Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus und Sans-Papiers ein Stück weit entkriminalisieren. Denn: Die City Card unterscheidet nicht zwischen Kategorien von Aufenthaltsberechtigungen. Die Idee: Wer in der Stadt lebt, ist Bewohner*in der Stadt und diese sind sich gleichgestellt. In Bern haben sich Organisationen und Einzelpersonen zum Netzwerk «Wir alle sind Bern» zusammengeschlossen, welches das Projekt vorantreibt. Die Gruppe bezieht sich – wie sie selbst schreibt – auf das Konzept der «Urban Citizenship» und diskutiert Ideen, wie eine moderne demokratische Gesellschaft gestaltet werden kann.

Ende November lud «Wir alle sind Bern» zu einem Austausch zu solidarischen Städten und City Card-Initiativen. Das sogenannte Stadtforum in der Heitere Fahne bot einen Einblick in verschiedene Bewegungen, die sich in und ausserhalb der Schweiz für das Konzept der City Card engagieren. Stellvertretend für den Goodwill, der der Idee in der rotgrünen Stadt Bern entgegenschlägt, steht die Eröffnungsrede von Franziska Teuscher an jenem Samstag. Teuscher betonte in ihrer Ansprache den Willen der Stadtregierung, eine Stadt für alle zu erschaffen. Zur City Card meinte die Gemeinderätin: «Es gibt kaum eine politische Idee, die ich spannender finde.»

Nach ihren einleitenden Worten stellte sich die Frage: Woran scheitert das Begehren, wenn Wille aus Bevölkerung und Politik vorhanden sind? Wie so oft bei Migrations- und Einbürgerungsthematiken findet sich die Antwort im geografisch erweiterten Raum. Über Ausländerrecht und dessen Kontrolle entscheiden in erster Linie Bund und Kantone. Erschwerend kommt hinzu: Die  Stadt Bern verfügt im Gegensatz zu Zürich seit 2008 über keine städtische Polizei mehr. Und damit die City Card eine teilweise Entkriminalisierung von Sans-Papiers bieten kann, muss diese von der Polizei als Identifikationspapier anerkannt werden. Dies bedingt ein Einlenken der kantonalen Politik, welche dem Vorhaben nicht zugeneigt sein dürfte. Ungeachtet der weitreichenden städtischen Bemühungen. Im Schwerpunkteplan 2018-2021 zur Umsetzung des Leitbildes zur Integrationspolitik definierte der Gemeinderat bereits folgendes Ziel: «Die Stadt beteiligt sich an der Debatte um das Konzept von ‘Urban Citizenship’ und ist bestrebt, eine City Card einzuführen, um damit die Teilhabe aller Bewohnerinnen und Bewohner unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus zu fördern.» Auch im nächsten Schwerpunktplan dürfte die City Card eine zentrale Rolle einnehmen.

Franziska Teuscher unterstrich den Willen der Stadtregierung, eine Stadt für alle zu ermöglichen. (Foto: Danielle Liniger)

«Bern ist in Sachen City Card bereits weiter als Zürich.» – schrieb die WOZ Ende 2020. Ein Jahr später sieht die Lage anders aus. Denn die Stadt am Seebecken steht mittlerweile kurz vor der Einführung der «Züri City Card». Oder doch nicht? Nachdem der Zürcher Stadtrat den Gemeinderat zum Handeln aufgefordert hatte, sprach die städtische Exekutive am 1. September 2021 einen Rahmenkredit zur Einführung der City Card. Mittlerweile hat aber ein überparteiliches Komitee das Referendum dagegen ergriffen. Die Urnenabstimmung dazu wird voraussichtlich im Mai 2022 stattfinden.

Und der aktuelle Stand in Bern? Hier hat eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Mitgliedern der Stadtverwaltung und der Zivilgesellschaft die Möglichkeiten einer Berner City Card diskutiert. Als Vertreterinnen der Beratungsstelle für Sans-Papiers engagierten sich Karin Jenni und Seraina Patzen in dem Gremium. Die Beratungsstelle ist in Bern seit früher Stunde eine der Antreiberinnen der Idee. Trotz viel Wille aus den städtischen Direktionen ist der urbane Ausweis aber noch nicht spruchreif. «Die Umsetzung ist in der Tat sehr herausfordernd», sagt Karin Jenni. Es stellten sich Fragen nach der Machbarkeit auf städtischer Ebene und zudem müsse geklärt werden, dass die Karte Sans-Papiers nicht gefährde. Etwa durch die Ausstellung des Ausweises oder falls die Karte zu einem Erkennungsmerkmal für Menschen ohne Papiere werde, weil sie zu wenig Berner*innen nützten.

Auch was die Karte genau ermöglichen soll, sei noch unklar, führt Seraina Patzen aus: «Der Umfang städtischer Dienstleistungen ist sehr beschränkt. Dazu gehören etwa die Zugänge zu Entsorgungshöfen und Hallenbädern.» Dies seien zwar durchaus wichtige und sehr handfeste Beispiele, zu denen die City Card einen Zugang ermöglichen könne, aber noch nicht der grosse Wurf. Trotzdem, so hält Patzen fest, dürfe die symbolische Ebene der Karte nicht vergessen gehen. Sie solle zwar einen konkreten Nutzen bieten, ihre Verwendung sei aber auch ein Zeichen der Solidarität mit Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus.

«Man muss immer mitdenken, dass die Karte von einem möglichst grossen Teil der Stadtbevölkerung genutzt werden soll», erklärt Karin Jenni, «und nicht nur von Sans-Papiers. Daher soll die City Card etwa Vergünstigungen ermöglichen und so für verschiedene Bevölkerungsgruppen attraktiv sein. Wünschenswert wäre ein reduzierter ÖV-Tarif mit der City Card. Oder die Möglichkeit, auf dem Ausweis das Geschlecht frei wählen zu dürfen.»

Sicherheit vor Polizeikontrollen dürfte die City Card den in Bern wohnhaften Sans-Papiers eher nicht bieten. Im Gegensatz zu Zürich kennt Bern keine Stadtpolizei mehr. Die Kantonspolizei Bern – so ist zu vermuten – wird auf Stadtboden wohl kaum einen anderen Ausweis akzeptieren als im Rest des Kantons. Für Sans-Papiers bliebe somit das Risiko bestehen, sich gegenüber den Beamten nicht ausweisen zu können, und so ihren nicht geregelten Aufenthaltsstatus offenlegen zu müssen.

Anspruch und Realität klaffen bei dem Projekt City Card momentan noch auseinander. So schnell dürfte sich das auch nicht ändern. Was ist unter den aktuellen Voraussetzungen eine wünschenswerte und machbare Lösung? Karin Jenni antwortet auf die Frage: «Eine Karte für alle, die in Bern wohnen und von mindestens der Hälfte genutzt wird. In einem erstem Schritt ermöglicht sie Zugang zu städtischen Dienstleistungen, wird aber früh auch von Privaten akzeptiert. Für den Abschluss von Handyabos oder Angeboten der Post etwa.» Nach kurzem Innehalten fügt sie an: «Und wenn wir irgendwann an den Punkt kommen, dass die Kapo die Karte akzeptiert, sind wir zufrieden.»

Die Arbeit der interdirektionalen Arbeitsgruppe ist mittlerweile abgeschlossen. Eine Vorstudie wird aktuell gerade fertiggestellt und möglicherweise im nächsten Jahr veröffentlicht. Nun liegt der Ball bei der Fachstelle für Migrations- und Rassismusfragen, welche einen Umsetzungsvorschlag für die Berner City Card erarbeitet.