Viel Goodwill und manche offenen Fragen

von Christoph Reichenau 20. Mai 2020

Kein Zweifel, Bund und Kantone haben rasch gehandelt, um Kulturschaffende in der Coronakrise zu unterstützen. Eben wurden einige Massnahmen verlängert. Warum die unentbehrlichen Verbände der Kulturschaffenden nicht gleichberechtigt mitwirken dürfen, ist unverständlich. Und manche Fragen sind noch nicht abschliessend beantwortet.

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Grundlage dieses Artikels ist ein Gespräch mit Hans Ulrich Glarner, Vorsteher des Amts für Kultur des Kantons Bern und Leiter der Delegation der Kantone bei der Umsetzung der Bundesverordnung, die wirtschaftliche Auswirkungen des Coronavirus im Kultursektor abfedern soll. Hinzu kommen Gespräche mit Verantwortlichen kultureller Organisationen mehrerer Kunstsparten. Die kursiv gesetzten Passagen sind persönliche Einschätzungen des Autors.

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Zuerst kommen die allgemeinen Massnahmen: Entschädigung für Kurzarbeit im Rahmen der Arbeitslosenversicherung; Sicherstellung der Liquidität durch Bankdarlehen, für die der Bund bürgt; und Entschädigung für Selbständigerwerbende aus der Erwerbsersatzordnung (EO).

Dann erst greifen die Unterstützungsmassnahmen, die besonders für den Bereich der Kultur bestimmt und finanziert sind. Sie sind am 20. März per Notrecht für zwei Monate in Kraft getreten und vom Bundesrat eben bis 20. August verlängert worden.

«Berset-Tempo»

Dass die Unterstützung so rasch und grundsätzlich so wirksam beschlossen und in Gang gebracht wurde, ist ein kleines Wunder. Das Bundesamt für Kultur ging voran, hörte die Verbände der Kulturschaffenden an, die ihre Sorgen vortrugen, lud dann die Kantone zu einer nur wenige Stunden dauernden Konsultation ein und schuf die «Verordnung über die Abfederung der wirtschaftlichen Auswirkungen des Coronavirus (COVID-19) im Kultursektor». Sie soll nachhaltige Schäden verhindern und helfen, die kulturelle Vielfalt zu erhalten.

Der von 1959 bis 1973 amtierende Vorsteher des Eidg. Departements des Innern, der Basler Sozialdemokrat Hans-Peter Tschudi, war für seine forsche und doch umsichtige Gangart bekannt. Dem sprichwörtlichen «Tschudi-Tempo» entspricht in der Coronakrise ein «Berset-Tempo» des Freiburger Sozialdemokraten; wohltuend. 

Doppelt subsidiär

Der vom Bundesrat per Notrecht beschlossene Erlass ist im doppelten Sinn subsidiär. Er ergänzt das, was die Kantone, Städte und Gemeinden tun. Und er greift nur da, wo – wie gesagt – die allgemeinen Unterstützungsmassnahmen des Bundes nicht angewendet werden können.

Kulturspezifisch sind zwei Unterstützungen für professionelle Kulturunternehmen sowie Kulturschaffende: Soforthilfen und Ausfallentschädigungen. In einzelnen Kantonen – etwa Bern – kommen zu Gunsten der kulturellen Vielfalt auch gewinnorientierte Unternehmen zum Zug.

Unterstützung erhalten auch Kulturvereine im Laienbereich. Diese Massnahme wird hier nicht weiter betrachtet.

Soforthilfen                              

Soforthilfen werden Kulturunternehmen in Form rückzahlbarer zinsloser Darlehen gewährt. Sie sichern die Liquidität des Betriebs. Die Darlehen sind auf 30% der Erträge begrenzt (gemäss letzter Jahresrechnung). Zuständig für die Gewährung der Darlehen sind die Sitz-Kantone der Unternehmen. Das Geld kommt vollumfänglich vom Bund. Diese Massnahme wird nicht bis Ende August verlängert, da das Geld praktisch nicht in Anspruch genommen wurde. Der verbleibende Kredit wird für die Ausfallentschädigung eingesetzt.

Anders funktioniert es bei Soforthilfen für Kulturschaffende. Sie sollen die unmittelbaren Lebenskosten decken (Mieten, Versicherungen, Essen usw.). Die Obergrenze liegt pro Tag bei 196 Franken. Zuständig für die Behandlung von Gesuchen ist der Verein Suisseculture Sociale, der praktisch alle Berufsverbände Kulturschaffender vereint. Auch dafür kommen die Finanzmittel zu 100% vom Bund (insgesamt 135 Millionen).

Ausfallentschädigungen

Sichern die Soforthilfen das Überleben von Personen und Betrieben, so decken die Ausfallentschädigungen den finanziellen Schaden, der Menschen und Unternehmen dadurch entsteht, dass Betriebe geschlossen, Veranstaltungen und Projekte angesagt oder verschoben werden müssen. Allerdings ist die Deckung auf 80% begrenzt; entgangener Gewinn wird nicht angerechnet und Soforthilfen werden abgezogen.

«Entschädigung» ist folglich das falsche Wort: «Minderung» des Schadens trifft es eher. Manche Kulturschaffende gingen davon aus, ihr Schaden würde zu 80% voll gedeckt; sie sind enttäuscht über die weiteren Anrechnungen bzw. Abzüge. Da mag die Kommunikation seitens der Kantone nicht überall glücklich gewesen sein.

Zuständig für die Ausfallentschädigungen sind die Kantone. Sie legen die Kriterien fest; so berappen sie etwa pro entgangenen Auftritt einer Sängerin 1‘000 Franken, ungeachtet der Marktansätze. Die Kantone sind die primären Geldgeber. Der Bund beteiligt sich finanziell zur Hälfte (mit insgesamt 145 Millionen).

Bis heute haben die 26 Kantone je in ihrer Zuständigkeit gesamthaft rund 150 Millionen Franken bereitgestellt; dazu kommen vom Bund 145 Millionen. Das Geld der Kantone wird nicht von der ordentlichen Kulturförderung abgezweigt, deren Kredite bleiben unangetastet. Es kommt zweckgebunden hinzu, im Kanton Bern etwa aus dem Lotteriefonds.

Gesuche um Soforthilfen und Ausfallentschädigungen müssen nach dem jüngsten Bundesratsentscheid bis am 20. September eingereicht werden. Angemeldet werden können Schäden, die bis Oktober eintreten oder andauern. Wie es nachher weiter geht, ist offen.

Notrechtskaskade und Harmonisierung

Die Corona-Massnahmen zu Gunsten der Kultur stellten das übliche Vorgehen in der hiesigen Kulturförderung auf den Kopf. Für einmal ging der Bund voran, die nach Bundesverfassung primär für die Kultur zuständigen Kantone folgten. Nach dem Notrechtserlass des Bundesrats, beschlossen die Kantonsregierungen in ausserordentlich kurzer Zeit ihrerseits die kantonalen Strukturen und Kredite.

Damit das Bundesrecht nicht in 26 leicht unterschiedlichen Weisen umgesetzt wird, bestimmte die Konferenz der kantonale Kulturbeauftragten (KBK) eine von Hans Ulrich Glarner (Vorsteher des Berner Amts für Kultur) geleitete Dreierdelegation zur Koordination und für den Kontakt mit dem Bundesamt für Kultur (BAK). Fast täglich stehen die drei KBK-Delegierten im Kontakt miteinander, zweimal in der Woche tagt die KBK digital, alle zwei Wochen treffen sich die Kantonsdelegierten digital mit dem BAK. Einbezogen ist auch die Eidgenössische Finanzkontrolle.

So werden Einzelfragen rasch geklärt, Interpretationen der Rechtsbestimmungen harmonisiert, die Gefahr divergierender Praxis gebannt und zwischen der Bundes- und der Kantonsebene breite Brücken geschlagen. Kein «Flickenteppich» also, sondern ein gutes Beispiel des «kooperativen Föderalismus», der zu Tschudis Zeit einsetzte; ein bis jetzt erfolgreicher Anwendungsfall des «nationalen Kulturdialogs», den Berset schon lange vor Corona neu belebte.

Kein Runder Tisch

Alles bestens also? Nicht ganz. In die Struktur der gemeinsamen Lösungssuche ist eine dritte Seite nicht vollständig einbezogen: Jene, welche die Lage der Kulturunternehmenden und der Kulturschaffenden aus der Nähe weitaus am besten kennt – die Kulturorganisationen. Sie vertreten die Interessen der Zielgruppen – jener Personen, welchen die Massnahmen helfen sollen. Wohl wurden sie angehört, konnten aus eigener Initiative Fragen stellen, ungefragt ihre Einwände anbringen. Sie sind der unersetzliche Transmissionsriemen zwischen den Behörden und den einzelnen Kulturschaffenden, sie erklären, übersetzen, beraten und helfen, dass die Berechtigten zu ihrem Geld kommen. Ohne sie würde das System bestenfalls halbbatzig funktionieren. Doch gleichberechtigt Lösungen mitgestalten dürfen sie bis heute nicht.

Es ist das alte Lied: Diejenigen, die im demokratischen Staat die Interessen der zu Unterstützenden vertreten, bleiben aussen vor, wenn die konkreten Lösungsansätze festgelegt und die praktische Umsetzung vollzogen wird. Eine Anhörung ist kein Runder Tisch ist keine Partnerschaft. Hier gibt es Luft, um das Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft fruchtbarer zu gestalten.

Offene Punkte

Das skizzierte Unterstützungssystem wurde mit Tempo aus dem Boden gestampft. Es benötigt für sein Funktionieren Daten, die es zum Teil noch nicht gibt. Dies hängt mit der Subsidiarität zusammen: Wie haben die vorgelagerten Instanzen entschieden? Bis wann ist ein Einnahmenausfall eindeutig bezifferbar? Oft werden deshalb Entscheide erst vorläufig getroffen, wird eine erste Tranche ausbezahlt, weil es noch keine Schlussrechnung gibt. Zwingend ist also der Austausch zwischen Behörden, die bisher wenig miteinander zu tun hatten.

Welche Kulturunternehmen werden unterstützt? Clubs bis hin zu Dancings: jene, die ein kuratiertes Musikprogramm haben. Bei Veranstaltern gehören die Bühnenbauer, Licht-, Ton-, KostümgestalterInnen dazu, die Grenze liegt bei Food and Beverage. Agenturen, die Tourneen organisieren, werden berücksichtigt für direkt künstlerisch relevante Leistungen, nicht aber für den Vertrieb von CDs, DVDs und dergleichen. Einbezug und Abgrenzung sind eine Gratwanderung; willkürliche Entscheidungen sind nicht ausgeschlossen. Der Austausch unter den zuständigen Stellen der Kantone hilft, eine gemeinsame Linie zu finden, die möglichst sachgerecht ist.

Alles, was mit Schulen zu tun hat, ist ausgeschlossen: Musikschulen, Tanzschulen, Kunstschulen, privater Kunstunterricht usw. gelten in dieser Betrachtung nicht als Kulturunternehmen. Sie sind auch nicht Teil des Bildungswesens. Retten die allgemeinen Corona-Massnahmen sie nicht, fallen sie durch die Maschen des Netzes. Indes: Musiklehrkräfte, die als Solisten oder mit einem Ensemble auftreten, können via ihre Konzertveranstalter Ausfallentschädigung beantragen. Dies gilt auch für TänzerInnen, SchauspielerInnen und andere KünstlerInnen; auch sie können durch die Arbeitgebenden für Kurzarbeitsentschädigung angemeldet werden oder als Selbständige bei der EO Erwerbsersatz beantragen. Doch für ihre Tätigkeit im Bildungsbereich bleiben sie aussen vor.

Einen Graubereich bildet die Kulturvermittlung. Soweit sie Wissen über Kunst und Kultur zugänglich machen – durch Führungen und Workshops – werden Fachpersonen aufgrund von Richthonoraren unterstützt. Wo sie in die Anleitung zur eigenen künstlerischen Betätigung der Teilnehmenden übergeht, endet die Unterstützung.

Freischaffende ArbeitnehmerInnen, die sich prekär und fragil von Engagement zu Engagement hangeln, ohne eigentlich als Selbständigerwerbende anerkannt zu sein, fallen durch das Netz – es sei denn, ihre Arbeitgebenden machen für sie Ausfallentschädigung (80%) geltend.

Positiv gerade im Bereich der Kultur: Es gibt keine Altersgrenze. Auch wer über 65 Jahre alt ist, hat Anspruch auf Soforthilfe und Ausfallentschädigung, wenn die anderen Kriterien erfüllt sind.

Und die Gemeinden?

Die Gemeinden können sich an den Unterstützungsmassnahmen beteiligen, müssen es aber nicht. In der Pflicht stehen die Kantone. Sie laden die Gemeinden ein, sich für den Bereich der kulturellen Bildung einsetzen. An den Treffen im BAK nehmen die Städte teil, allerdings eher um informiert zu bleiben.

Ordentlich – ausserordentlich

Die ordentliche Kulturförderung läuft derzeit auf Sparflamme. Die Soforthilfen und Schadensminderungen haben Vorrang. Alle Kräfte der Kulturämter sind darauf konzentriert. Bald aber werden schrittweise wieder die Gesuche für die Unterstützung neuer Projekte und Werke behandelt werden müssen. Das Kulturschaffen steht nicht still, weil es derzeit keine Aufführungen und Veranstaltungen geben darf. Es ist wie in den Spitälern, wo langsam die wegen der Coronakrise aufgeschobenen Operationen wieder durchgeführt werden können.

Wie weiter?

Mit der Verlängerung der Notverordnung bis zum 20. September hat der Bundesrat einen wichtigen Schritt getan. Allerdings wird die Soforthilfe für Kulturunternehmen zur Sicherstellung der Liquidität nicht verlängert. Der Geltungsbereich für Ausfallsentschädigungen wird aufgrund der Erfahrungen präzisiert. Am 27. Mai will der Bundesrat die Rahmenbedingungen für Veranstaltungen ab dem 8. Juni regeln.

Von den Präzisierungen der Ausfallentschädigung wurden die Kulturorganisationen überrascht. Sie empfinden diese als teilweise Pauschalisierung der Schäden, etwa die Deckelung ausgefallener Gagen auf 1‘000 Franken pro Auftritt, unabhängig von den konkreten Umständen. Zweck der Massnahme sei die Deckung des Schadens (zu 80%), keine Grundentschädigung. Wenn der Schaden genau berechnet werden müsse, verstehe man eine einseitig bestimmte «Schadenspauschale» nicht; sie werde der Arbeit der Kulturschaffenden nicht gerecht.

Andererseits ist ein gewisses Verständnis da, dass die Kredite der öffentlichen Hand begrenzt sind und doch bis am 20. September reichen müssen. Und die Verbände verstehen auch, dass der Grundsatz «first come, first served» problematisch sei. Der Eindruck des Aussenstehenden: Dass sich die Kantone entschieden haben, sich an den Richtgagen der Verbände zu orientieren, erscheint nachvollziehbar und legitim. Die Bundesratsverordnung bezweckt letztlich das «Abfedern» der Schäden, nicht deren deren volle Deckung. Das Problem liegt wohl beim Miteinanderreden; es kann nicht genug kommuniziert werden. Gegenseitig. Und möglicherweise würde die Einladung der Verbände an den Runden Tisch helfen.

Zwischenfazit

Für Folgerungen ist es zu früh. Wie sich die Arbeitsverhältnisse in der Kultur entwickeln, weiss niemand. Es kann sein, dass die Öffnung der Museen am 12. Mai bald erste Schlüsse ermöglichen. Das Verhalten des Publikums lässt sich nicht voraussagen: Überwiegend Neugier und Interesse oder Angst und Vorsicht? Sicher scheint lediglich, dass wenn Öffnung noch für lange Zeit bedeutet, die Abstandregel einzuhalten, die Einnahmen schrumpfen müssen und die betriebliche Balance schwierig zu finden sein wird. Wie sich dies für die Kulturschaffenden auswirkt, ist offen. Abgesehen vom Einkommen gibt es körperbezogene Einschränkungen im künstlerischen Ausdruck in allen Bühnenkünsten.

Ein Zuckerschlecken war Kulturschaffen noch nie, fragil war es stets und ein Mindestmass an Selbstausbeutung gehört – so zynisch es tönt – zum Berufsbild. Nun darf das Motto «The show must go on» kein neues Prekariat legitimieren. Die in der Anwendung der Unterstützungsmassnahmen näher zusammengewachsenen Kulturförderinstanzen müssen jetzt ihre gemeinsame Basis nutzen, um vereint die Förderung zu stärken und in der Förderung die Kulturorganisationen zu echten Partnerinnen zu machen. Dies könnte auch beim allfälligen Lobbying um mehr Geld helfen. Die Behandlung der Kulturbotschaft 2021-2024 des Bundesrats durch die Eidgenössischen Räte bietet dafür eine erste Gelegenheit.