Verwurzelung im Hier

von Christoph Reichenau 24. September 2021

«Margrit Jäggli und die Berner Szene 1950-1970» heisst die Ausstellung in der Galerie Béatrice Brunner, die Konrad Tobler mitkuratiert. Neu zu würdigen ist eine spannende Zeit künstlerischen Schaffens um die Aktionsgalerie, die Berner Galerie und die Kunsthalle.

Die Gewichte sind klar verteilt. Im grossen Raum der Galérie Béatrice Brunner hängen mit gebührendem Abstand die grossen Porträts von Margrit Jäggli (1941-2003) in verschiedenen Techniken – eine Reihe von Künstlerinnen und Künstlern, Freundinnen und Freunden in der Berner Szene 1950-1970, teils bekleidet, teils in enthüllender Nacktheit. Man kennt die Eine, den anderen. In den berühmten Spiegelbildern treten sie uns entgegen. «Der Spiegel als Requisit der Selbstbetrachtung und Selbsteinschätzung, der Selbsterkenntnis und der Selbsterfahrung als ein Dasein in der Zeit und damit ein immer deutlicher lesbares, unaufhaltsames Altern und Sterben muss schon ganz am Anfang zu den persönlichen Lebenswerkzeugen von Margrit Jäggli gehört haben – eine Verführung und eine Warnung», schrieb der ehemalige «Bund»-Redaktor Fred Zaugg.

Im kleinen Projektraum liegen in Vitrinen und hängen an der Wand Werke zahlreicher anderer Künstlerinnen und Künstler jener Szene aus dem Nachlass von Margrit Jäggli. Der Szene der Aktionsgalerie und der Berner Galerie, aus der sich die soeben vor dem Sparantrag des Gemeinderats gerettete Stadtgalerie entwickelte. Dicht an dicht und übereinander bieten die kleinen Formate einen Überblick der inhaltlichen, formalen und technischen Vielfalt des damaligen Schaffens. Wer jene Zeit erlebt hat, taucht in Erinnerungen. Wer jung ist, entdeckt Überraschendes. Ob die Künstlerinnen und Künstler sich mochten, ob sie sich aus dem Weg gingen – hier hängen ihre Bilder – nicht immer die wichtigsten – zum Gefallen der Betrachtenden wie aufgespiesste Schmetterlinge mit ausgebreiteten Flügeln. Die Kunst in Bern vor einem halben Jahrhundert in kleinen Formaten à revoir.

Dicht an dicht und übereinander bieten die kleinen Formate einen Überblick der inhaltlichen, formalen und technischen Vielfalt des Kunstschaffens in Bern zwischen 1950 und 1970. (Foto: Christoph Reichenau)

Und? Keine Videos, natürlich nichts Digitales, solides Handwerk mit – subjektiv – einzelnen Highlights: Christian Lindows Frauenporträt (Käthy), Esther Altorfers «Kellerkino», unbetitelte Werke von Beatrix Sitter-Liver und Marie Bärtschi, die Baustelle von Alfred Hofkunst, Margrit Jägglis Bleistift-Porträt von Lilly Keller. Die Frauen sind gut vertreten und stark, auch Mariann Grunder, Lilly Keller, Ka Moser, Lis Kocher, Irene Schubiger, Meret Oppenheim. Die meisten Werke sind frisch; haltbare Kunst. Zu erahnen sind die Fäden zwischen den Bildern, die Feindschafts- und Freundschaftsnetze unter den Personen. Szene heisst nicht zwingend Nettigkeit.

Warum lohnt es sich, an Margrit Jäggli, an die Szene und an ihre Werke zu erinnern? Weil es das einmal gab, weil es entstanden ist auf natürliche Weise im Dorf, das die Altstadt war, weil es bestand über längere Zeit und dabei die Chance hatte, sich zu entwickeln dank gegenseitiger Beachtung der Akteurinnen und Akteure, weil Künstlerinnen an der Weltspitze mit anderen zusammenwirkten. Die nicht in der Ausstellung zu sehenden Fotografien von Kurt Blum aus jenen Jahren zeigen dokumentarisch und atmosphärisch eine Lebensform, die untergegangen ist. Und mit ihr die Gemeinsamkeit von Künstlerinnnen und Künstlern aller Sparten, die sich heute kaum je an Vernissagen und Premièren begegnen.

Béatrice Brunner und Konrad Tobler, beide sehr jung in jener Zeit, kommt das Verdienst zu, an damals zu erinnern und das Besondere neu entdeckbar zu machen. Sie führen uns nicht nostalgisch zum Nicht-mehr. Sie zeigen uns vielmehr einen präzisen Ausschnitt der Zeit und Kunst in Bern und lassen uns darüber nachdenken, warum so etwas möglich war. War man sesshafter, weniger mobil, nahm man das Motto «Global denken, lokal handeln» wörtlicher? «Ich wollte nicht eine Schweizer Künstlerin sein, sondern zur Weltspitze gehören», sagte Margrit Jäggli. «Aber ich ertrug es nicht, an der Spitze zu sein. Ich ertrug die Vermarktung der Kunst und damit der Künstlerinnen und Künstler nicht.»

Die Erinnerung an 1950-1970 in Bern weckt Fragen zum Heute in unserer Stadt. Die Geschichte konfrontiert uns mit der Gegenwart. Nimmt man Bern international wahr wie damals? Wie erleben wir die hiesige Kunstlandschaft? Gestalten wir sie mit?

Was in der Galerie Béatrice Brunner geleistet wird, ist im Grund die klassische Aufgabe des Museums, es hat dafür Räume, Mittel, Zeit. Die Kunsthalle hat zum 100. Jubiläum in eigener Sache Ähnliches unternommen, auch sie kein Museum. Für genau solches ist ein Kunstmuseum da und unersetzlich, wie in der Tageszeitung der Lokaljournalismus unersetzlich ist. Diese Aufgabe nicht einmal zu erkennen, ist schade. Erst recht, wenn von neuen Räumen geträumt wird. Es gebe keine Zukunft ohne Herkunft, sagt man. Es gibt auch keine museale Bedeutung ohne Verwurzelung im Hier.

Bis 16. Oktober 2021.

www.beatricebrunner.ch

Am Samstag, 25. September, 16 Uhr: Konrad Tobler im Gespräch mit Rudolf Jäggli.