Verwitterte Grabsteine hinter dem Wankdorfstadion

von Janine Schneider 30. Juli 2021

Einst weit ausserhalb der Stadt, liegt heute am Berner Stadtrand der Israelitische Friedhof.

Wer am Wankdorfstadion vorbei der Papiermühlestrasse gegen Norden folgt – am Rand mehrspuriger Strassen und unter tosenden Autobahnbrücken hindurch, zwischen Strassenverkehrsamt und Autofilialen – der findet kurz nach der Abzweigung nach Worblaufen ein unerwartet ruhiges Fleckchen Erde vor: den Israelitischen Friedhof. Die seit 150 Jahren existierende jüdische Ruhestätte ist ein «Terrain Fixe» im «Terrain Vague», das, von der A6 und der A1 eingerahmt, zwischen Bern und Ittigen liegt.

Um ein Gespür für dieses Gebiet am äussersten Rand der Stadt zu kriegen, unternehme ich einen kurzen Spaziergang Richtung Ostermundigen auf der nach Adolf Wölfli benannten Strasse. Da ist der Entsorgungshof, der sich auf Recycling spezialisiert hat: Der Blick verliert sich in den grossen Hallen, in denen Berge Papier transportiert, gestapelt, geschreddert werden. Da sind die Schrebergärten am Waldrand mit den hohen, prallen Sonnenblumen. Gegenüber, eingezäunt, eine alternative Wohnsiedlung:  bunte, heruntergekommene Wohnwagen, Schrotthaufen, aufgehängte Wäsche, ein Hund bellt mich an. Etwas weiter ein provisorischer Durchgangsplatz für Schweizer Fahrende: weisse, ordentliche Wohnwagen, Sonnensegel und Campingstühle. Hinter den Feldern erblicke ich die Psychiatrie Waldau, ehemals Irrenanstalt genannt, heute beherbergt sie die universitären psychiatrischen Dienste und ein Museum. Die Waldau ist älter als der Israelitische Friedhof. 1855 in einer Gegend gebaut, die genug weit von der Stadt entfernt war, um diejenigen unterzubringen, die nicht genehm waren, die zwischen die Raster fallen, und keinen Platz in der Stadt haben. Noch heute sind es eben solche Menschen, die sich hier einrichten müssen. Sie geben diesem ungewissen Raum eine seltsame Beständigkeit. Und in all der beständigen Ungewissheit steht der Israelitische Friedhof mit seinen mächtigen Platanen und efeuüberwachsenen Grabsteinen.

Eine alternative Wohnsiedlung an der Wölflistrasse (Foto: Janine Schneider)

Schon im Mittelalter gab es einen jüdischen Friedhof in Bern, der sich allerdings am Standort des heutigen Ostflügels des Bundeshauses befand. Mit der Vertreibung der Juden und Jüdinnen aus Bern 1427 endete dessen Geschichte. Erst 1871 wurde aufgrund der wieder wachsenden jüdischen Gemeinde ein neuer Friedhof am heutigen Standort an der Papiermühlestrasse eröffnet. Damals lag er weit ausserhalb der Stadtgrenzen. Nur die Psychiatrie und einige Bauernhäuser befanden sich in der Umgebung. Die Gräber im ältesten Teil des Friedhofs stammen noch aus dieser Zeit. Zwischen den Gräbern wächst Gras, es ist gemäht, aber nicht niedergetreten, der Boden unangenehm weich. Hierher kommen keine Angehörige mehr, die alten Fotogravuren werden nur noch von fremden Neugierigen betrachtet. Auf den neueren Grabsteinen liegen dagegen Kieselsteine, die von den Hinterlassenen im Gedenken dorthin gelegt wurden. Sie haben etwas Tröstliches an sich. Unter den neueren Grabsteinen befinden sich auch diejenigen der Gebrüder Loeb, des Schokoladenfabrikanten Camille Bloch und des Sozialphilosophen Max Horkheimer, der seinen Lebensabend im Tessin verbracht hatte. Ihre Lebensgeschichten kennt man, viele andere nicht. Mein Blick schweift über die Geburts- und Todesdaten der Verstorbenen, die die Fragen nach den Leben dahinter offen lassen, Fragen nach Frieden, Flucht oder Emigration, die diese Leute im kurzen 20. Jahrhundert erlebt haben mochten. Nur bei den Gedenksteinen des Holocaust-Mahnmals sind die Schicksale tragisch gewiss. Draussen tobt die A6 und der Wind bläst von Osten.

Hinter den Grabsteinen erhebt sich die A6 (Foto: Janine Schneider)