Als er Ende Mai am Anlass zu seiner Verabschiedung aus der Berner Regierung selber das Wort ergriff, hielt er eine fulminante Rede. Kein Zauderer und Taktierer redete da, sondern einer, dem sehr wohl bewusst war, was er geleistet hatte, und der sich seiner Worte sicher war. Was wohl in erster Linie als Dank gedacht war, wandelte sich beim Reden zur Frage – zur Frage wieso. Wieso ihn kaum je jemand gefragt habe, weshalb und wodurch er seine vielen Erfolge im Regierungsrat, im Grossrat und in Volksabstimmungen errungen habe. Da klang Unglauben durch, Unwillen auch, und eine Spur Indigniertheit.
Wieso?
Also fragen wir nach bei Bernhard Pulver. Braun gebrannt, erholt, locker sitzt er im Bistro des Alpinen Museums. Wir treffen uns in der Zwischenzeit, die er sich nimmt, bevor er bald entscheiden will, wie es für ihn weitergeht. Viele erwarten Vieles von ihm, er dürfte vor der Qual der Wahl stehen. Und vielleicht kommt es auch zu einer Volkswahl, wenn Hans Stöckli 2019 nicht zur Wiederwahl als Ständerat antreten sollte. Doch dies ist Zukunft. Vorerst lebt er nach seinem Rhythmus, seinen Interessen in einem kostbaren Interim des nicht mehr und des noch nicht. Ein Privatmann auf Zeit, der jetzt Musse hat, nachzudenken über seine Art, in der Politik zu wirken. Quecksilbrig, nachdenklich und doch rasch und entschieden – Pulver braucht nicht viele Fragen, um in Fahrt zu kommen. Einmal am Reden walzt er jedoch das Gegenüber nicht nieder. Er lässt sich unterbrechen, stoppt mitten im Satz, fragt nach, nimmt Einwände und Überlegungen auf, setzt neu an. Pulver weiss, doch er weiss es nicht besser. Nie «Du musst wissen», kein Imponiergehabe, offenes Hin und her im Bemühen, verstanden zu werden und zu verstehen. Im Grund ist das Gespräch selbst ein Beispiel dafür, was er darlegen will im Rückblick auf seine Zeit als Exekutivpolitiker. Als Summe seines bisherigen Politisierens sozusagen. Als vorläufige Summe.
Mitdenken heisst Mithelfen
Nie hätte er geglaubt, mit seiner Art, Politik zu machen, so viel zu erreichen, auch in Volkswahlen und –abstimmungen. Seine Art: Wirklich wissen wollen, was es zu einer Problemlösung braucht, was die Betroffenen meinen, was geht – und dann den Weg bestimmen, den bestmöglichen, auch wenn und weil es den besten nicht gibt. Und dies transparent zu erklären.
Für Pulver ist es kein Unglück, unterschiedlicher Meinung zu sein. «Im Gegenteil. Ich bin in erster Linie auf der Suche nach der besten Lösung für ein Problem. Da ist jeder, der mitdenkt, einer der mithilft», erklärt er. «Il faut associer les gens au développement de la solution.» Pulver verweist auf Mani Matter: «Dass einer von einem Standpunkt aus, den wir nicht teilen, seine Betrachtungen anstellt, heisst nicht, dass diese Betrachtungen für uns wertlos sind. Es ist möglich, dass er von dort aus Dinge sieht, die uns von unserem Standpunkt aus entgehen.» (Tagebuch IV 1969-1971, in: Sudelhefte, 1974, S. 137) Dies so zu sehen bedingt, den Leuten primär gute Absichten zuzubilligen, zuzuhören, Fragen zu stellen. Aber dann doch einmal zu entscheiden.
Bernhard Pulver hat das Gefühl, er sei bei den Idealen seiner Jugend und seiner Vor-Regierungszeit geblieben. «Einmal hat mich ein Journalist gefragt, ob ich in meiner Regierungstätigkeit viele Ideale hätte aufgeben müssen. Nach Überlegen wurde mir klar: Ich habe keine Ideale aufgeben müssen – ich konnte eigentlich immer in die für mich richtige Richtung gehen. Aber ich bin auch nie davon ausgegangen, dass ich meine Ziele, meine Richtung einfach 1:1, sozusagen tel quel, umsetzen könnte. Das wäre sogar schrecklich in einer pluralistischen Gesellschaft.»
Etwas Anderes ist geschehen: Eher noch habe der Glauben an die Menschen zugenommen. Und der Glaube an die Politik, an die Möglichkeiten der Politik. Eine Enttäuschung über die Politik empfindet er wegen dem, was in der Politik nicht probiert und nicht gemacht wird. Wegen den Lösungen, die nicht gefunden werden, weil man es nicht wagt, das Gespräch zu suchen, zuzuhören und den anderen guten Willen zu unterstellen. Weil man eine gemeinsame Lösungssuche sich selbst und den anderen nicht zutraut oder nicht zumutet. Dabei wären so viele gute und gemeinsame Lösungen möglich, wenn man die Menschen nicht als Gegner, sondern als Partner im Lösungsfindungsprozess einbeziehen würde.
Responsabiliser les gens
Ein Schlüsselerlebnis war für Pulver, noch nicht lange im Amt, eine Lehrerversammlung an der Gewerblich-industriellen Berufsfachschule Bern (GIBB). In deren Verlauf fragte ihn jemand: Wann erhalten wir Berufsschullehrer den gleichen Lohn wie die Gymnasiallehrer, wir absolvieren ja mittlerweile praktisch die gleiche Ausbildung? Pulver antwortete, die Finanzlage ermögliche es nicht, und spürte, dass er sich hinter einem falschen Argument versteckte. Also fuhr er fort: «Aber selbst, wenn ich das Geld hätte, gäbe ich es zuerst den Kindergärtnerinnen, die weniger verdienen als ihr, da ist das Problem dringender.» Er erhielt Applaus und merkte: Ich hatte zu Unrecht Angst vor Ablehnung, wenn ich den Leuten nicht nach dem Mund rede. Besser ist es, du traust ihnen etwas zu, du mutest ihnen etwas zu, du machst sie zu Mitverantwortlichen, zu Komplizen im guten Sinn. Das heisst «responsabiliser les gens».
Mit noch mehr Gesprächen hätte man noch mehr Probleme lösen können, ist Pulver überzeugt. Gespräche sind Diskussionen mit Betroffenen, Fachleuten, Personen mit einem anderen Standpunkt. Auf diesem Weg hat er, weitgehend unbemerkt, fast die Hälfte aller Zeugnisse abgeschafft. Der Weg: Kontroverse Diskussionen in einem Ausschuss führten zu ersten Überlegungen und Entwürfen, zufällig ausgewählte 200 Lehrpersonen nahmen Stellung. Es folgten fünf Plenarversammlungen der verschiedenen Stufen mit rund 2000 involvierten Lehrpersonen. Am Ende gab es einen Konsens, den eine grosse Mehrheit mittrug – und umsetzte.
Der Kompass
Pulvers Credo bestimmte nicht nur sein Handeln als Regierungsrat, es schlägt sich konkret in der Bildungsstrategie des Kantons Bern nieder. Etwa in den Sätzen: «Das Schaffen von gegenseitigem Vertrauen ist die Grundvoraussetzung für die Entfaltung der Menschen. Vertrauen in unser Bildungssystem, in die Schulleitungen und Lehrpersonen, in die Familien und in die Auszubildenden ist somit Voraussetzung für den Bildungserfolg unseres Landes, Vertrauen heisst, grundsätzlich einmal davon auszugehen, dass die Partner mithelfen und alles daran setzen, gute Arbeit zu leisten.»
Der Anfang im Amt war schwierig. Bernhard Pulver verstand zu wenig von der Sache. Er verfügte über zu wenige Informationen, um zu entscheiden. Er wollte wissen, was eine Entscheidung auslöst. Also nahm er sich als Chef die Freiheit, immer und immer wieder, Fragen zu stellen, ohne Angst zu haben, sich dabei auszusetzen und nicht für voll genommen zu werden. Dabei half ihm die Überzeugung, man werde gewählt, um genau diesen Weg zu machen, um genau die kritischen Fragen zu stellen: «Zuerst braucht es einen inneren Kompass, eine Haltung – eben Ideale –, eine Richtung, in die man will. Dann aber braucht es die Anderen, die Ergänzung und Erweiterung des eigenen Wissens um die Ideen, die Anliegen, die Ziele der Anderen. Das ist Demokratie, sonst kommt es nicht gut.» Deshalb könne der definitive Weg nur immer nach vielem Nachfragen erkannt werden, denn oft sei lange nicht klar, was richtig ist.
Gibt es Voraussetzungen für diese Art des Vorgehens beim Politikmachen? Für Bernhard Pulver kann das jede und jeder. Allerdings muss man den Menschen vertrauen, nicht misstrauen. «In Wahrheit», schrieb der Systemtheoretiker Niklas Luhmann, «fundiert der Vertrauensgedanke das gesamte Recht, das Sicheinlassen auf andere Menschen.» Missbrauch des Vertrauens kommt vor, ist aber – so Pulver – selten. Wenn man ihnen Vertrauen entgegenbringe, gäben die Leute Positives zurück. Dennoch kann es vielleicht doch nicht jede und jeder. Es braucht dafür Selbstvertrauen und ein bestimmtes Selbstbewusstsein und «man darf keine Angst haben vor einer Diskussion in einem Saal voller Leute».
Einfühlung schafft Vertrauen
Woran erkennen die Leute, dass man ihnen vertraut und damit, nochmals Luhmann, eine »riskante Vorleistung» erbringt? Dass Vertrauen etwas wert ist und nicht Gleichgültigkeit bedeutet? Pulver nennt ein Beispiel. Damit das Konstrukt der Dachstiftung von Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee möglich wurde, mussten zuerst die Stiftung Zentrum Paul Klee (für den Betrieb) und die Maurice and Martha Müller Foundation (Eigentümerin des Gebäudes) zusammengeschlossen werden. Dieser Zusammenschluss war zuvor nie zustande gekommen. Pulver verstand das nicht und fragte direkt nach den Gründen. Die Antwort: Gäbe es nur noch die Stiftung «Zentrum Paul Klee», so würden die Namen der ausserordentlichen Gönner des ZPK verschwinden. Aufgrund dieser Erklärung wurde es möglich, mit der Unterzeile «gegründet von Maurice E. und Martha Müller sowie den Erben Paul Klee» ein zuvor grosses (da nicht wirklich verstandenes) Problem zu lösen. Es brauchte über das Zuhören hinaus einen Raum des Vertrauens. Dafür müsse man Vorleistungen erbringen, sagt Pulver: «Ich muss das Gegenüber überzeugen, dass es und sein Anliegen mich wirklich interessieren. Dies bedingt Anteilnahme und Einfühlung.» Die englische Autorin Leslie Jamison hat es so gesagt: «Empathisch zu sein, bedeutet nicht nur zuzuhören, sondern auch, überhaupt erst die Fragen zu stellen, die dann Antworten hervorbringen, denen man zuhören muss.»