Christoph Marti war vom Studium weg 41 Jahre Musiklehrer am Gymnasium Neufeld. Er begann in der Zeit des legendären Döfe Burkhardt und leitete mit ihm und nach dessen Pensionierung grosse Chorkonzerte. Im Jahr 2018 ging Marti selbst in Rente. Er blieb seinem Gymer in kritischer Freundschaft verbunden und besucht wenn möglich jedes Konzert in der Eingangshalle des Schulgebäudes beim Bremgartenwald oder in der Französischen Kirche.
Als Rentner erlernte Christoph Marti im Selbststudium anhand der Photoshop-«Bibel» die Technik digitaler Gestaltung. Mit dieser schuf er «Selbstbildnisse», wie er sie nennt: Digitale Collagen zu Anagrammen über Bach und Mozart.
Anagramme
Anagramme sind Buchstabenrätsel oder aber – wie hier – kurze und formal strenge Gedichte, die durch Verwendung der Buchstaben eines Namens entstehen. Martis Anagrammen liegen die Wortfolgen «Iohan Sebastian Bach» (so nannte Bach sich selbst) zugrunde und «Ioh. Ch. Wolfg. Th. Mozart» (abgekürzter Taufname). Eine fast mathematische Tüftelei, ein Rechnen und Probieren, damit alles aufgeht – zugleich das Streben nach Sinn, (Wort-)Klang und perfekter Form. Die Gedichte fügt Marti, wie auch handschriftliche Elemente aus Partituren von Bach und Mozart, in die Bilder ein.
Jedes Bild hat vier Ebenen. Zugrunde liegt stets ein Selbstbildnis Martis, etwa ein Foto als Knabe, im Photoshop gefiltert und geordnet in einem Dreieck oder in einer S-Form. Hinzu kommt – dem Internet entnommen – ein «Bild aus der kaputten Welt» (wie Marti sagt), aus dem russischen Krieg gegen die Ukraine oder aus einem afrikanischen Flüchtlingslager. Ebene drei bildet die Silhouette einer Frau. Zuletzt kommen die Anagramme zu Bach und Mozart hinzu sowie Partiturelemente in deren Handschrift. Die vier Ebenen überlagern, durchdringen, kommentieren und verbinden sich zu einer auf den ersten Blick schwer entzifferbaren Komposition in den dunklen Farben Blau und Schwarz.
Jede Ebene umfasst zwei Sujets und ist mit jeder anderen kombinierbar. So ergeben sich 16 unterschiedliche Bilder.
Quadraturen
An den Bildern arbeitet Christoph Marti am Bildschirm bis er sieht, dass sie fertig sind. Dann arbeitet er weiter an ihnen mit dem Drucker Tom Blaess in dessen Atelier am Uferweg. Erst auf Papier werden die Digitate zu wirklichen Bildern im Format 60 mal 60 Zentimeter. Zu «Quadraturen», auch weil sie die Quadratur versuchen von Wüstem und Bösem in Schönheit. Und zu Unikaten, denn jedes Bild drucken Marti und Blaess nur einmal. Das Geheimnis der Bilder erschliesst sich erst bei langsamer, genauer Erkundung.
Wieso nennt Marti die quadratischen Blätter «Selbstbildnisse»? Zum einen, wie erwähnt, wegen der ersten Ebene jedes Bildes. Zum anderen, weil sie Vieles, das ihn ausmacht und ihn umtreibt, das innere Chaos von Gedanken und Klängen und Farben, bändigen, in Form bringen und ausdrücken. Die Selbstbilder sind auch ein Versuch, die Bilderflut im Internet, dieses (so Marti) «Bombardement» mit Aufnahmen von Krieg und entblössten Frauenkörpern, zu ordnen, zu kanalisieren – und zu ertragen.
64 Bilder zeigt Christoph Marti an seiner ersten Ausstellung im Turm von Schloss Holligen; zwei Zyklen zu je 16 Bildern und 32 einzelne Nebenwerke, wie er sagt, die keinen eigenen Zyklus bilden.
Subversive Schönheit
Während seiner Zeit als Musiklehrer versuchte Marti gelegentlich, selber zu komponieren, ohne dass ihm dabei Gültiges gelang. Seit langem schreibt er Gedichte. Nach der Pensionierung wollte er etwas Schönes machen. Und dies in einer anderen Sparte als der Musik: in der bildenden Kunst.
Ein kolumbianischer Philosoph hat in den 1990er Jahren mit Aphorismen und Fragmenten Christoph Marti berührt: Nicolas Gomez Davila (1913-1994). Davilas Satz «Wirksam gegen die Welt konspiriert nur, wer insgeheim die Bewunderung der Schönheit verbreitet», wurde für Marti zu einem Leitmotiv. Ein weiterer Davila-Satz, einer von tausenden, prägte Marti: «Es genügt, dass die Schönheit unseren Überdruss streift, damit unser Herz wie Seide zwischen den Händen des Lebens zerreisst». Wie sein Musiklehrer-Kollege Döfe Burkhardt empfand Christoph Marti das «Vermitteln von Widerwillen und Begeisterung» (ein weiteres Davila-Wort) als Ziel jeglichen Unterrichts. Dafür leiste der Staat sich Lehrkräfte, um in den jungen Menschen eine Ahnung von Schönheit zu pflanzen, ausserhalb des gesellschaftlichen Mainstreams und sogar diesen in Frage stellend, ihm entgegen steuernd.
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Nun stellt Christoph Marti zum ersten Mal Bilder aus. Der 70-jährige Newcomer empfindet sich als unverfroren, seine Initiative fast als Frechheit. Doch er traut sich, sich der Öffentlichkeit auszusetzen. Den Mut dafür hat er durch strenge Selbstbefragung gewonnen, etwa zum Zweifel, ob man menschliches Leiden in Bildern ästhetisieren dürfe. Marti findet ja, solange man dies respektvoll tue. Dank dem spürbaren Respekt vor dem, was Menschen durchmachen müssen, wirken die verfremdeten Eindrücke aus dem Krieg in der Ukraine oder aus einem afrikanischen Flüchtlingscamp als Zumutungen umso stärker.
Christoph Martis Selbstbildnisse können gekauft werden. Vom Erlös geht ¼ an eine humanitäre NGO, ¼ deckt die Druckkosten, ¼ die zu erwartenden Steuern; den Rest behält Marti für sich – um weiterarbeiten zu können auf seinem Weg, etwas Schönes zu machen.