Vergänglich

von Bettina Wyler 27. Juli 2022

Sommerserie (8): Bergwanderungen gehören zum Sommer. Schmelzende Gletscher ebenfalls. Unsere Autorin unterwegs im Berner Oberland.

Direkt neben mir geht es mindestens 300 Meter senkrecht hinab. Ich sehe die Bäume als grünen Teppich weit unter mir, dazwischen der Fluss mit viel Geröll und wenig Wasser. Weiter hinten liegt Grindelwald in einem milchigen Dunst, eine weitläufige Anordnung von Häusern und einzelnen grünen Baumreihen.

Mir wird mulmig. Der Weg fällt so unmittelbar ab, dass ich mir wünschte, ich hätte Flügel und könnte sie im Falle eines Stolperns ausbreiten und den Sturz auffangen. Es kommt mir unglaublich vor, dass im Laufe der Jahrtausende überhaupt dieser schmale Streifen am Fels übrig geblieben ist, auf dem nun der Wanderweg entlang führt.

Ich wünschte mir, ich hätte Flügel.

Mit festem Griff halte ich mich an der Kette zu meiner Linken fest und setze jeden Schritt langsam vor den anderen. Ich versuche die Höhe auszublenden, die ich im Augenwinkel unweigerlich wahrnehme, und nur auf den steinigen Weg vor mir zu fokussieren. An manchen Stellen sind die Kanten glattgeschliffen von den vielen Wanderschuhen, die schon darauf aufsetzten. Bei meinen eigenen weiss ich noch nicht, wie gut sie auf dem Stein haften, die neuen Schuhe fühlen sich seltsam fremd an. Umso vorsichtiger wähle ich aus, wo ich hintrete.

(Foto: Bettina Wyler)

Nach ein paar Minuten biegt der Weg links um die Felswand und der Blick öffnet sich auf ein U-Tal. Die gegenüberliegende Talseite besteht aus hohen Felswänden durchsetzt von langen, schmalen Wasserfällen. Einige davon schiessen aus einem Loch mitten aus dem Fels hervor, andere rollen aus einem kleinen Schneefeld den Hang hinab, bis sie langsam ins Fallen kommen und weiss stäuben. Darüber ragen dunkle Gipfel auf.

Auf meiner Seite des Tals wird der Weg endlich breiter. Ich lasse die letzte Kette los und gehe wieder aufrecht und zügiger. Der Abgrund zu meiner Rechten verschwindet zuerst hinter kleingewachsenen Bäumen, dann wird der Weg kiesig und durchquert einen grasbewachsenen Abhang.

Aus dem Gras schauen zu beiden Seiten Orchideen hervor, daneben Enzian, Hahnenfuss, Teufelskralle, Esparsette, Arnika und Wundklee. Manchmal gleichmässig verteilt, dann wieder vereint zu einzelnen dichten Blumenpolstern, ist die Farbenpracht und Vielfalt überwältigend.

(Foto: Bettina Wyler)

Ich muss mich davon abhalten, ständig anzuhalten und Fotos zu machen, und gehe im gleichmässigen Bergschritt weiter. Meter um Meter bewege ich mich tiefer ins Tal hinein. Bald wird der Weg wieder schmaler, doch mein Griff um die Kette, die vereinzelt den Weg sichert, ist etwas lockerer als zuvor. Die Sonne steht währenddessen hoch am Himmel und brennt unbarmherzig auf mich nieder. Schweiss läuft mir die Stirn herunter, das T-Shirt klebt am Rücken.

In der Hoffnung auf Abkühlung halte ich meine Hände ins Wasser, doch es ist erstaunlich warm.

Etwas überraschend führt der Weg unter einem Wasserfall durch und dann im Zickzack eine Kuppe hinauf. Ich komme noch mehr ins Schwitzen. Die Baumgrenze liegt nun weit hinter mir, Schatten gibt es nirgends. Der Junihitze trotzend blühen Alpenrosen zwischen Steinbrocken, dazwischen fliessen Bächlein den Hang hinunter und queren den Wanderweg. In der Hoffnung auf Abkühlung halte ich meine Hände ins Wasser, doch es ist erstaunlich warm.

Schliesslich erreiche ich den Kamm der Kuppe. Und sehe ihn. Den Oberen Grindelwaldgletscher, wie er dick und träge über dem Felsen liegt. Sein vorderes Ende ist keine spitz zulaufende Zunge, wie ich erwartet hätte, sondern eine senkrechte Eiswand, die auf der ganzen Breite gleich hoch ist. In der Mitte führt ein Bach mehrere Hundert Meter den kahlen Felshang hinunter, bis er auf einen riesigen Schneehaufen trifft und sich wie eine Narbe hindurch einen Weg ins Tal bahnt.

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Ich kann nur erahnen, wie es ausgesehen haben muss, als der Schnee dieses Feldes noch Teil des Gletschers war. Und schon löst sich vom linken Teil der Eiswand ein Stück und kippt wie in Zeitlupe Richtung Tal. Dann schlägt es auf dem Fels auf und zerbröckelt in unzählige Teile, die als breiter, weisser Wasserfall in Richtung Schneefeld fliessen. Erst dann kommt der Schall zu mir, ein lautes und dumpfes Poltern, das im ganzen Tal widerhallt.

Nach ein paar Sekunden hat sich das Schneegestöber gelegt und es wird still. Aber nicht für lange. Kurz darauf bricht im rechten Teil des Gletschers ein neues Stück ab, ein kleineres diesmal. Es fliesst als schmale Lawine nach unten, das Grollen dauert nur einen Augenblick an. Dann ist es wieder still.

Ein Mahnmal von etwas, das mal war und nie mehr zurückkommen wird.

Ich schaue zurück zum Eingang des U-Tales. Das Eis muss unglaublich stark gewesen sein, um es so zu formen. Ich frage mich, wie lange es her ist, dass der Gletscher das ganze Tal gefüllt hat. Wahrscheinlich nicht einmal hundert Jahre. Heute zeugen nur noch die gleichmässig geschliffenen, dunklen Felsen davon. Plötzlich erkenne ich, wie winzig der Gletscher vor mir ist. Ein Mahnmal von etwas, das mal war und nie mehr zurückkommen wird.

(Foto: Bettina Wyler)

Als es weiterhin still bleibt, setze ich mich wieder in Bewegung und steige den treppenartigen Weg Richtung Berghütte hoch, die über mir bereits zu sehen ist. Mit jedem Schritt wird der Gletscher gegenüber breiter und zerklüfteter. Zur Rechten sehe ich, wie er bis zum Kleinen Schreckhorn reicht. Und nach ein paar weiteren Höhenmetern lässt sich erahnen, dass er früher mit dem riesigen Eisfeld unterhalb des Schreckhorns verbunden war.

Einmal mehr wünschte ich, ich hätte Flügel und wäre nicht an den Weg unter meinen Füssen gebunden. Ich würde mich abstossen und vom Aufwind in die Höhe tragen lassen. Dann würde ich hinüberfliegen zum Gletscher, die Eiswand aus der Nähe betrachten und in die Spalten hinunterschauen.

Ich würde alle Eindrücke verinnerlichen und sie für immer aufbewahren wollen.

Wenn ein Stück abbricht, würde ich es auffangen und weiter oben wieder aufs Eis legen. Ich würde hochfliegen zum Schreckhorn und einmal um den Gipfel kreisen. So sähe ich, wie auf der anderen Seite des Berges der Hintere Grindelwaldgletscher beginnt und die Gleschterschlucht geformt hat.

Ich würde durch sie hindurchfliegen und bei Grindelwald wieder in die Höhe steigen, um schliesslich über Eiger, Mönch und Jungfrau hinwegzufliegen und den Aletschgletscher hinunterzusausen. Ich würde alle Eindrücke verinnerlichen und sie für immer aufbewahren wollen.

So aber bleibe ich auf dem Wanderweg und steige die letzten Meter zur Hütte hinauf. Sie steht mittenauf einer felsigen Anhöhe, eine Schweizer Fahne markiert den äussersten Vorsprung. In der Bergbeiz bedient mich ein rund achtjähriges Mädchen. Es fragt freundlich, ob der Aufstieg schön war.

«Ja», sage ich, «schön schon».