Die Journal-B-Autorin Sabine Schärrer kritisierte das Stadtplanungsamt für die Herangehensweise an das Stadtentwicklungskonzept 2015: «Die räumliche Stadtentwicklung kann erst definiert werden, wenn die weichen Faktoren (Stadtsoziologie, Gesellschafts- und Mobilitätsmodelle etc.) ausgelotet sind.» Journal B holte dies nach und sprach mit dem Stadtsoziologen Christian Schmid von der ETH Zürich.
Was ist eine Stadt und wie funktioniert sie aus soziologischer Sicht?
In der Deutschschweiz befasst man sich nicht so gerne mit Stadt. Schweizerisch ist das Land, das Dorf. Obwohl es dieses Land nicht mehr gibt, denn es gibt in der Schweiz nur noch urbanisierte Gebiete. Die Schweiz wurde schon im 19. Jahrhundert industrialisiert, und sie entwickelte sich bald zu einer wichtigen Industrienation – doch bis heute wird das Bild der ländlichen Schweiz zelebriert. Was heisst Stadt? Städtisch sind zuallererst die Leute, die in einer Stadt leben. Dies sind einerseits diejenigen, die schon in der Stadt aufgewachsen sind, und andererseits die Immigrantinnen und Immigranten. Jede Stadt lebt von der Immigration. Zürich ist dafür ein gutes Beispiel. Vor 200 Jahren war Zürich ein Kaff mit 10‘000 Einwohnern. Dann kamen Welle um Welle Leute aus der Umgebung, aus den angrenzenden Kantonen, aus dem Tessin und dem Bündnerland, aus Italien und Deutschland. Sie brachten alle auch ihre Kultur mit. So sieht man an den Häusern der Genossenschaften aus der Zwischenkriegszeit beispielsweise noch Wandgemälde voller ländlicher Motive – auch ein Zeichen dafür, woher die Leute kamen. Bis 1970 war Zürich noch eine Industriestadt. Man arbeitete bei Escher Wyss, bei Maag oder bei Bührle. 1990 arbeitete kaum noch jemand in der Industrie. Nun sind die Banken, Versicherungen und unternehmensorientierten Dienstleistungen die Arbeitgeber und damit ist Zürich eine ganz andere Stadt.
Ist es heute noch so oder hat sich auch dies wieder verändert?
Zürich ist heute eine Metropolitanregion, die sich immer weiter ausdehnt. Auch die politischen Grenzen verwischen sich. Wo beginnt die Stadt und wo hört sie auf? In unserem Buch* zeigten wir, dass in der Schweiz auch ländliche Gebiete wie das Emmental urbanisiert sind. Die Leute leben dort nicht grundlegend anders als in Bern. Man hat Fernsehen, Computer und Internet, man hat die gleichen Informationen, die gleiche Mode, man konsumiert die gleichen Produkte. Vielleicht hat man gewisse weltanschauliche Differenzen. Zu Zeiten von Jeremias Gotthelf und auch von Gottfried Keller waren Stadt und Land noch zwei völlig verschiedene Welten.
Dann heisst Urbanisierung soviel wie Industrialisierung?
Ja, die Industrialisierung bringt gewissermassen auf ihrer Rückseite die Urbanisierung mit sich. Bis zur Industrialisierung gab es nur sehr wenige Städte mit mehr als 30’000 Einwohnern. Engels beschreibt in «Die Lage der arbeitenden Klasse in England», wie Manchester mit der Industrialisierung sozusagen explodiert. Manchester war 1770 eine Stadt mit rund 20‘000 Einwohnern. Dann wurde die Dampfmaschine erfunden, die ersten Fabriken und Kamine errichtet. Um 1840, als Engels nach Manchester kam, hatte die Stadt bereits über 300‘000 Einwohner. Und an vielen anderen Orten passierte das Gleiche. Das ist Urbanisierung.
«Die Industrialisierung führt nicht nur zum massiven Wachstum von Städten, sondern auch zu einer Veränderung des Landes»
Christian Schmid
Doch die Industrialisierung führt nicht nur zum massiven Wachstum von Städten, sondern auch zu einer Veränderung des Landes. Mit den neuen Energiequellen, mit der Eisenbahn und den Dampfschiffen konnte man Produkte und Nahrungsmittel um die halbe Welt transportieren. Die Landwirtschaft veränderte sich radikal. Wegen der billigen Importe mit der Eisenbahn war beispielsweise die Kartoffel in der Schweiz bald nicht mehr konkurrenzfähig. So setzten die Bauern vermehrt auf Viehzucht und Graswirtschaft. Die heutige bäuerliche Kleinfamilie, die viele als so typisch schweizerisch betrachten, entstand damals, als ein Resultat der Industrialisierung.
In Bern war aber die Industrie nie stark.
Ja, das ist bis heute sichtbar.
Bern ist in einem vorurbanen Sinn als Zentrum der Macht entstanden, hat aber die Industrialisierung und somit die Urbanisierung nicht mitgemacht. Ist Bern also überhaupt urban? Ist Bern überhaupt eine Stadt?
Da kommen wir zur Frage, was urban ist. Georg Simmel behandelte diese Frage bereits vor über hundert Jahren in «Die Grossstädte und das Geistesleben». Der Unterschied zum Dorf ist, dass die Menschen in den Städten nicht mehr von der Subsistenzwirtschaft, der Selbstversorgung und der gegenseitigen Hilfe leben können. In der Stadt wird man in eine Geldökonomie geworfen. Das führt unter anderem zu einer stärkeren Arbeitsteilung und zu einer grossen Vielfalt von Berufen. Was die Qualität einer Stadt ausmacht, sind die Unterschiede, die sich entwickeln. Der französische Philosoph Henri Lefebvre brachte es auf den Punkt: Urban ist es dann, wenn die Differenzen zusammenkommen, sich erkennen und anerkennen und in einen Austausch treten. So wird das Urbane zu einer generativen Kraft.
Darum der 9. Februar? Versuchte da die ländliche Bevölkerung mit der Masseneinwanderungsinitiative das Urbane, den Austausch mit dem Anderen, zu verlangsamen, zu stoppen?
Ja, so kann man das sehen. In den Städten lehnte man die Initiative ab, zum Teil überaus deutlich. In «ländlichen» Gebieten, wo die Bevölkerung homogener ist und viel weniger Immigrantinnen und Immigranten leben, nahm man sie an. Das Abstimmungsverhalten verstehe ich als einen möglichen Gradmesser für Urbanität bzw. für eine urbane Haltung.
Urbanität wäre somit eine Mentalitätsfrage?
Heute ja. Das war nicht immer so. Früher war man viel stärker örtlich gebunden. Heute kann man auch in abgelegeneren Gebieten wohnen und dank Internet und Mobilität am Puls der Zeit sein.
Kann auch das Umgekehrte geschehen? Kann auch das Rurale in der Stadt neu entstehen?
Das erleben wir zurzeit dramatisch im Zürcher Seefeld-Quartier und in Zürich West. Das Seefeld wurde in den letzten Jahrzehnten gentrifiziert und heute sprechen wir von Hyper-Gentrification. Zuvor gab es im Seefeld eine gemischte Bevölkerungsstruktur, viele Läden und ein reges Quartierleben. Heute ist es der bevorzugte Ort für Expats, extrem teuer und nobel und ziemlich verödet. Und in Zürich West baut man «condominium towers». Ich nenne sie aufeinandergestapelte Einfamilienhäuser, unten mit Tiefgaragen. Die Bewohner gehen nicht auf die Strasse, sondern in die Tiefgarage. Sie tauchen im öffentlichen Raum gar nicht mehr auf. Wir könnten auch von einer Suburbanisierung der Zentren sprechen. Man schottet sich ab.
«Die Bewohner gehen nicht auf die Strasse, sondern in die Tiefgarage. Sie tauchen im öffentlichen Raum gar nicht mehr auf.»
Christian Schmid
Unter den heutigen Konditionen kann man sagen, dass sich die Frage der Urbanität an der Abschottung oder Offenheit der Leute entscheidet. Das ist auch sehr zeitabhängig, es gibt Phasen der Öffnung und der Schliessung. Das lässt sich in Zürich gut nachvollziehen: Im ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit war Zürich sehr offen, wie sich nur schon am Dadaismus zeigt, der ja in Zürich ein Zentrum hatte. Nach dem 2. Weltkrieg wurde Zürich borniert und langweilig. Erst die Jugendbewegung in den 80er-Jahren konnte diese Enge wieder aufbrechen. Nun zogen vermehrt Leute, die das Urbane suchten, in die Stadt. Wer das Einfamilienhaus bevorzugte, zog an den Rand der Agglomeration. Diese Doppelbewegung spiegelt sich im Abstimmungsverhalten. Seit Mitte der 80er-Jahre werden die Städte rotgrün und das Umland wählt mehrheitlich SVP.
Und gleichzeitig geschieht, was Benedikt Loderer über die Landschaft sagt: Die Urbanität wird konsumiert und aufgebraucht. Im Januar haben in Bern die Arbeiten am Nutzungskonzept für die Schützenmatte begonnen. Man möchte den Ort aufwerten. Der Parkplatz zwischen Reithalle und Notschlafstelle ist tatsächlich nicht sehr attraktiv. Aber gleichzeitig findet hier sehr viel kreatives Leben statt. Ist nicht dieser Ort, mit dem Verkehr, den Junkies aber auch mit der autonomen Szene einer der urbansten Orte von Bern?
Ja, das sehe ich auch so.