Es ist Mittwochmorgen um 10:15 Uhr, in der Zentrale des Velokuriers Bern, hinter dem Quartier-Lokal Café Kairo in der Lorraine. Die Velokurierzentrale ist ein offener Raum mit Küche, Werkstatt und abgetrennten Büroräumen, die durch die Glaswände gut ersichtlich sind. Hinter mehreren Bildschirmen und Pulten mit vielen Zetteln wird disponiert, die Fahrten geplant und orchestriert. Die Person hinter den Bildschirmen ist immer mit den Fahrer*innen über Funk in Kontakt und gibt Anweisungen.
In der anderen Ecke des Raumes befindet sich eine Velowerkstatt, wo zwei Kurier*innen gerade ihr Velo reparieren. «In zwei Stunden habe ich eine Schicht, nun mache ich noch was am Velo und esse hier zu Mittag», erzählt eine Kurierin. Einige Meter daneben befindet sich die Küche, in der Gigi gerade Pasta für Älplermakaronen kocht. Am Mittag gibt es für alle Kurier*innen Verpflegung, meist Pasta oder etwas anderes mit vielen Kohlenhydraten.
Phlo Waber empfängt mich am langen Tisch und bietet mir einen Kaffee an. Der 39-jährige angehende Lehrer arbeitet seit 15 Jahren beim Velokurier Bern und ist Teil des 5-köpfigen Leitungsteams. Ich kriege einen Kaffee, setze mich an den grossen Tisch, der den meisten Platz in der Zentrale einnimmt. Ein Kurier liest Zeitung, ein anderer isst ein Müsli aus einer riesigen Schüssel. Es gibt Hafermilch und Kuhmilch. Kurier*innen kommen und gehen. Helme, Funkgeräte und Schlösser liegen auf dem Tisch. «Im Büro ist es etwas ruhiger», sagt Phlo und wir wechseln den Platz.
Journal B: Letztes Jahr wurde der Velokurier Bern 35 Jahre alt. Wie hat sich der Velokurier in dieser Zeit verändert?
Phlo Waber: Gegründet wurde der Kurier von zwei Menschen als Genossenschaft. Seither hat sich viel verändert. Der Velokurier wurde immer grösser, gerade zur Zeit der Pandemie sind wir nochmals stark gewachsen. Wir mussten unsere Infrastruktur vergrössern und haben unsere Disposition digitalisiert. Ein Computerprogramm hilft uns nun, die Einsätze zu planen. Während Corona gab es eine enorme Nachfrage nach Essenslieferungen, die wir mit unserem Angebot Schellerteller.ch abdecken konnten.
In Bern gehören die Kurier*innen mit den roten Trikots und grossen Rucksäcken schon fast zum Stadtbild. Wie gross ist der Velokurier?
Zurzeit arbeiten rund 70 Leute hier, die ungefähr 24 Vollzeitstellen abdecken. Das tiefste Pensum ist bei 20–30 Prozent und die höchsten Pensen liegen bei 80 Prozent, aber da gehört dann auch Arbeit im Backoffice oder in der Leitung dazu. Die ganze Zeit zu fahren, wäre körperlich und mental zu belastend. Mit 50 Prozent werden um die fünf Schichten pro Woche gefahren. Die Schichten dauern unterschiedlich lange, zwischen drei und sechs Stunden.
Auf eurem Instagramkanal sieht man oft Storys, bei denen Skis, Snowboards und riesige Koffer auf Anhänger oder Lastenräder gehieft und transportiert werden und manchmal fährt ihr nur mit einem Rucksack. Was transportiert ihr so und wer sind eure Kund*innen?
Wir haben viele Stammkund*innen aus der Medizin. Labore sind gute Kund*innen, da hier viele Proben transportiert werden oder auch medizinische Geräte. Hier machen wir auch Transporte in andere Städte, für die wir mit der SBB zusammenarbeiten. Eine Kurierperson fährt zum Zug, öffnet das Transportabteil, lädt die Ladung ein und beispielsweise in Genf übernimmt dann ein lokaler Kurier die Ladung. Komplettlösungen sind sehr gefragt. Wir müssen in der Distanz wie auch im Umfang der Lieferung sehr flexibel sein. Und wie du gesagt hast, transportieren wir Gepäck mit unseren Lastenvelos. Manche Kund*innen wollen beispielsweise Messgeräte schnell von einem Ort zum anderen transportieren. Mit dem Essenslieferdienst Schnellerteller.ch haben wir eine Auswahl von Restaurants, für die wir ausliefern. Hier sind unsere Kund*innen oft auch umweltbewusst, was uns von anderen Kurierdiensten abhebt. Wir fahren ohne Auto und ohne Motor, auch kein Elektromotor.
Durch die Digitalisierung sind sicher viele Aufgaben weggefallen, da Dokumente einfach per Mail versendet werden können. Was hat sich in den letzten 35 Jahren in der Kurierarbeit verändert?
Früher hatten wir beispielsweise viele Architekturbüros, für die wir Pläne zu Baustellen geliefert haben. Durch die Digitalisierung sind diese Aufträge weggefallen.
Wie schnell geht das bei euch, wenn ich ein Päckli von A nach B schicken möchte?
Gestartet hat alles mit einem Grundtarif, bei dem wir garantieren konnten, dass ein Paket innerhalb einer Stunde in der Stadt transportiert wird. Nun haben wir drei Modelle. Beim schnellsten Angebot liefern wir innerhalb einer halben Stunde, beim langsameren Produkt liefern wir innerhalb von zwei Stunden und im mittleren Modell geht es maximal eine Stunde. Die Leute in der Dispo können so die Wege besser planen. Die Ladung, die länger brauchen darf, können wir dann mit einer anderen Expresssendung zusammentun, wenn die Richtung dieselbe ist. Dies ist wichtig, denn wir können uns keine Leerfahrten leisten.
Mit diesen unterschiedlichen Modellen und den vielen Mitarbeiter*innen seid ihr ein recht grosses Unternehmen geworden. Wie seid ihr organisiert?
Wir haben ein Kreismodell, bei dem die Verantwortungen immer wieder wechseln. Jeder Kreis – beispielsweise der Kreis Leitung, der Kreis Schulung oder der Kreis Disposition – kann selbständig Entscheidungen treffen. Einmal im Monat publizieren wir intern ein Magazin, in dem jeder Kreis von seiner Arbeit berichtet und Erneuerungen kommuniziert.
Wie läuft das Geschäft?
Die Nachfrage ist sehr schwankend, im Winter haben wir mehr Laboraufträge, da mehr Viren im Umlauf sind. In den Ferien gibt es mehr Transportaufträge von der SBB. Um für die Kund*innen attraktiv zu bleiben, transportieren wir auch schwerere Lasten, wie zum Beispiel grosse Koffer. Solche Ladungen können bis 100kg schwer sein und an das Velo wird ein Anhänger gekoppelt. Früher war das sehr unbeliebt bei den Kurier*innen, aber um wirtschaftlich zu bleiben ist es wichtig, dass wir diese Transporte anbieten. Wir heben uns von anderen Kurierdiensten ab, da wir einheitliche Löhne zahlen. Bei vielen Essens-Lieferservices werden die Fahrer*innen pro Fahrt bezahlt und haben lange Wartezeiten, in denen sie nichts verdienen. Bei uns kriegen die Kurier*innen einen fixen Stundenlohn, egal wie viel los ist. Wir haben auch einen Gesamtarbeitsvertrag. Um die Löhne zahlen zu können, müssen wir so planen, dass wir wirtschaftlich funktionieren.
Nun gibt es einen neuen Kurierdienst, den Intra City Kurier. Stellt dies für euch eine Konkurrenz dar? Vorher gab es ja eigentlich keine Konkurrenzangebote.
Das stimmt so nicht. Es gibt andere motorisierte Kurierdienste wie Citytrans, die auch Kurierdienste anbieten. Wir als Velokurier können aber im Gegensatz zu anderen Kurieren, die mit Autos fahren, auch in der Rushhour garantieren, dass die Lieferungen rechtzeitig ankommen. Der Intra City Kurier ist aber sicher ein weiterer Player, der ähnliche Dienste anbietet wie der Velokurier Bern. Wir machen uns aber keine Sorgen, da wir viele Stammkund*innen schon über Jahre haben.
Vielleicht wird der neue Kurier auch dazu führen, dass noch mehr Unternehmen auf Velo-Kurier-Services umsteigen, da es ja schon einen Trend in Richtung ökologische Angebote gibt. So hätten alle gewonnen.
Wie blickt ihr in die Zukunft?
Das ist schwierig zu sagen. Die Frage, ob wir auch mit E-Bikes fahren, wurde schon mehrmals diskutiert, aber von den Kurier*innen immer wieder verworfen. Es gibt eine hohe Identifikation mit dem Kurierberuf, der ohne Motor auskommt. Sicherlich werden technische Innovationen wie Drohnen, die Kurier*innen ersetzen können, das ist sicherlich eine Herausforderung. Eine Chance könnte die Tendenz der autofreien Innenstadt werden. Falls dies Realität würde, wäre das für uns natürlich super.
Die Velokurier*innen vom Velokurier Bern, haben ein gewisses Image, jede*r kennt sie in Bern und sie sind auch bekannt dafür, dass sie nicht immer alle Verkehrsregeln einhalten. Ist dieses Image gewollt?
Ja dieses Bild gibt es, aber es ist nicht gewollt. Wichtig ist die Professionalität unserer Dienstleistung. Zudem fahren wir sehr sicher. Wenn wir die Anzahl gefahrenen Kilometer ins Verhältnis zu den Unfällen unserer Fahrer*innen setzen, sind wir extrem sicher unterwegs.