«Diese Sprache werde ich nicht lernen! Warum Französisch? Kann man nicht Englisch oder Italienisch lernen?» Meine Tochter weinte zwei Wochen vor Beginn der 3. Klasse. Ein paar Wochen später sprach Polina bereits einige einfache Sätze auf Französisch und zählte bis zwanzig. Ich diskutierte diese Situation mit der Lehrerin. Sie vermutet, dass Polina ein Talent zum Sprachenlernen hat. Ich bin darüber hinaus überzeugt, dass die Atmosphäre, die die Lehrerinnen in der Schule schaffen, beim schnellen Lernen hilft. Denn lernen kann man nur dort, wo man sich wohlfühlt. Daher habe ich mich gefragt, warum Schüler*innen in der Schweiz gerne in die Schule gehen und was sie von den ukrainischen Schüler*innen unterscheidet. Denn in der Ukraine vermiest schon alleine der Gedanke an die Schule vielen Kindern die Stimmung. Die Eltern beschweren sich in den sozialen Medien darüber, dass sie aufgrund des komplizierten Lehrplans selbst wieder lernen müssten, um ihren Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen.
Nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine, als Millionen von Ukrainer*innen nach Europa auswanderten und Hunderttausende von Schüler*innen dort zur Schule gingen, wurde der ukrainische Teil von Facebook mit Tausenden von Kommentaren von Eltern über das Bildungssystem in diesen Ländern überflutet. Sie beschwerten sich über… die Einfachheit. Sie sagten, dass die Kinder nicht lernen, sondern spielen würden, und dass das Bildungspensum recht gering sei. Deshalb befürchteten die Eltern, dass ihre Kinder nicht genug Wissen erwerben würden. Niemand hat das europäische Schulsystem an die Ukrainer*innen angepasst. Sie lernen grösstenteils wie deutsche, österreichische, schweizerische oder polnische Schulkinder. Aber reicht das Wissen dieser Kinder nicht aus, um sich in diesen wirtschaftlich entwickelten Ländern eine Zukunft aufzubauen? Wenn ukrainische Schüler*innen und Studierende die Schulen und Universitäten mit einem «Sack» voller Wissen verlassen, warum wenden sie es dann nicht in der Praxis an? Wozu braucht der Mensch Wissen, das er nie anwendet?
Die meisten Ukrainer*innen erwerben einen Universitätsabschluss, ohne zu wissen, ob sie in ihrem Studienfach arbeiten können.
Die Ukrainer*innen haben eine andere Realität. In der Ukraine ist es prestigeträchtig, an einer Universität zu studieren, auch wenn man keine Leidenschaft für diesen Beruf hat. Niemand veranstaltet hier Schnuppertage bei der Arbeit, um herauszufinden, für welche Art von Berufsleben sich ein Kind interessiert. Die meisten Ukrainer*innen erwerben einen Universitätsabschluss, ohne zu wissen, ob sie in ihrem Studienfach arbeiten können. Und ob sie das überhaupt wollen würden…
In der Schule lernen die Kinder alles. Die Hausaufgaben nehmen ihre gesamte Freizeit in Anspruch und führen zu Streitigkeiten und sogar zu Konflikten zwischen Eltern und Kindern, Eltern und Lehrer*innen und manchmal – wegen des Umfangs der Konflikte – auch mit den Nachbar*innen. Mit meinem ältesten Sohn habe ich bis zur 5. Klasse Hausaufgaben gemacht! Die ganze Abendzeit wurde damit verbracht, den Schulstoff zu wiederholen und ihn dann dem Kind noch einmal zu erklären. Ja, die ukrainischen Lehrer*innen waren sehr professionell. Es gab einfach eine Menge Aufgaben und Informationen, die sich das Kind merken musste! Mit meiner Tochter, die in der Schweiz die Schule besucht, mache ich keine Hausaufgaben. Ich höre mir nur ihre täglichen Berichte über Erfolge und Misserfolge an und lobe sie für ihre neuen Fortschritte.
Aus meiner Studienzeit erinnere ich mich an meine Kolleg*innen, die nach bestandener Prüfung wussten, dass ihr Diplom so oder so in der Schublade landen würde.
Ich habe mich immer gefragt, was das Besondere an Schweizer Schulen ist, und bin zu dem Schluss gekommen, dass Kinder beim Lernen spielen! Natürlich spreche ich hier nur von den Erfahrungen meiner Drittklässlerin. Gleichzeitig höre ich oft von ukrainischen Flüchtlingen, dass «ein Kind unbedingt auf ein Gymnasium gehen sollte.» Das ist der Wunsch der Eltern(!), auch wenn der Wissensstand des Kindes nicht ausreichend ist. Auch wenn das Lernen keine Freude und kein Vergnügen bereitet, ist es für ukrainische Eltern wichtig, dass ihr Kind eine «gute» Ausbildung erhält.
Ich vergleiche gerne die Gegenwart mit den Ereignissen, die bereits geschehen sind, und analysiere, warum wir so sind, wie wir sind. So kreisen meine Gedanken in letzter Zeit um die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass es in der Ukraine eine «Armee» von Jurist*innen, Wirtschaftswissenschaftler*innen und Lehrer*innen gibt, die nie in ihrem Fachgebiet gearbeitet haben. Aus meiner Studienzeit erinnere ich mich an meine Kolleg*innen, die nach bestandener Prüfung wussten, dass ihr Diplom so oder so in der Schublade landen würde. Sie sagten, dass eine höhere Bildung für den Status notwendig sei. Wenn wir uns jedoch an die kommunistische Vergangenheit der Ukraine erinnern, ist dies nicht überraschend.
In der Sowjetunion bedeutete ein Universitätsstudium zwei Dinge: Entweder war man sehr gut in der Schule oder man hatte einflussreiche Verwandte an der Macht. Ein Universitätsabschluss machte einen Menschen «besser». Und die Eltern machten unartigen Kindern Angst, indem sie ihnen sagten, dass sie nach der Schule «die Strassen fegen» würden. Das war eine grosse Demütigung!
In der Sowjetunion bedeutete ein Universitätsstudium zwei Dinge: Entweder war man sehr gut in der Schule oder man hatte einflussreiche Verwandte an der Macht
Der persönliche Erfolg in der Gesellschaft wurde nicht an der Zufriedenheit mit dem eigenen Leben gemessen, sondern an materiellem Wohlstand oder «Status». Als die Ukraine unabhängig wurde und Bildung zugänglich wurde, beschlossen die Eltern, die verschiedene Einschränkungen und Demütigungen erlebt hatten, ihren Kindern alles zu geben, was sie nicht hatten. Manchmal auch gegen den Willen der Kinder selbst.
Übrigens treffe ich oft Leute, die mit ihren zwei oder drei Universitätsdiplomen prahlen. Aber diese Menschen haben oft keine angemessene Lebensqualität. Und natürlich hätten sie gerne die innere Ruhe und das Vertrauen in die Zukunft, das ein Angestellter eines Gastronomie- oder Bauunternehmens in der Schweiz hat. Aber fast niemand würde das zugeben!
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Das Ministerium für Bildung und Wissenschaft in der Ukraine hat vor kurzem begonnen, über die übermässige Belastung von Schulkindern zu sprechen. Sie sagen, dass Kinder, die zu den Geisteswissenschaften neigen, nicht mit Mathematik belastet werden sollten. Und andersherum. Eine Delegation des Ministeriums besuchte sogar die Schweiz. Die Beamten interessierten sich für die Schweizer Erfahrungen mit der dualen Ausbildung– das Lehre-System gibt es in der Ukraine nicht. Darüber hinaus stehen wir Ukrainer*innen auch weltweit vor Veränderungen. Zuallererst in unseren Köpfen.
Das Ministerium für Bildung und Wissenschaft in der Ukraine hat vor kurzem begonnen, über die übermässige Belastung von Schulkindern zu sprechen.
Mehr als 66’000 Ukrainer*innen, die sich unter anderem aufgrund des Krieges in der Schweiz befinden, werden mit einer anderen Vorstellung von einem glücklichen Leben und einem Studienplatz in die Heimat zurückkehren. Natürlich werden einige unzufrieden sein. Die Mehrheit wird jedoch erkennen, dass nicht alle Informationen der Welt in den Kopf eines Kindes passen. Am besten ist es, wenn sich Schüler*innen die Fähigkeiten erwerben, die sie für das Leben brauchen, nicht für den Status in der Gesellschaft. Und sie werden glückliche Kinder bleiben, die abends bei den Hausaufgaben keine Konflikte mit ihren Eltern haben.