Unerschöpfliche Fantasie, gestalterische Freiheit

von Christoph Reichenau 10. Januar 2022

Es sind drei Ausstellungen in einer, wie eine Matrjoschka, im Kunstmuseum Bern. Den Kern bildet Meret Oppenheims eigener Plan von 1983 mit dem Titel «Mon exposition». Raumhoch umgeben einen dann im Eingangsbereich Fotografien der Retrospektive 1984 in der Kunsthalle, die die Künstlerin selbst kuratiert hat. Die dritte Dimension bilden die Werke der eigentlichen Ausstellung, die alle Schaffensphasen beleuchtet. Unbedingt anschauen.

Wir kennen die Kunst Meret Oppenheims, Wahlbernerin seit 1949. Die 1913 in Berlin geborene Künstlerin war nach vielversprechenden Anfängen in Paris und Basel hier Antiquitätenhändlerin und überwand 1954 die seit 1937 andauernde «Krise», wie sie diese Lebensphase bezeichnete. In der darauf folgenden, sehr produktiven Zeit, schuf Meret Oppenheim Auftragswerke (1966 etwa das Wandbild «Wolke und Gestirne» für die BFF), kuratierte Ausstellungen (so 1971 mit Lilly Keller «Die andere Realität» im Weissen Saal des Kunstmuseums), hatte ihre erste hiesige Einzelausstellung (1968 in der Galerie Krebs, ohne Erfolg). Sie war aktiv in der Berner Kunstszene, in der damals Künstlerinnen und Künstler der bildenden Kunst, der Musik, des Theaters und Tanzes miteinander eng verbunden waren und zusammen arbeiteten. 1975 wird Meret Oppenheim mit dem Kunstpreis der Stadt Basel ausgezeichnet; in ihrer Dankesrede äussert sie sich zum «weiblichen Künstler» und zum Weiblichen in der Gesellschaft. Dabei sagte sie unter anderem: «Die Freiheit wird einem nicht gegeben; man muss sie sich nehmen».

Es folgen Gastdozenturen, Preise, Wanderausstellungen, die Publikation ihrer Gedichte, Retrospektiven. 1983 wird ihr «Brunnen» auf dem Waisenhausplatz eingeweiht, ein Auftragswerk des Gemeinderats, das bewundert und geschmäht wird. 1985 stirbt Meret Oppenheim in Basel; längst gilt sie als die wichtigste Künstlerin der Schweiz im 20. Jahrhundert. Das Bundesamt für Kultur nennt seinen Schweizer Grand Prix Kunst «Prix Meret Oppenheim».

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Wir glauben Meret Oppenheims Kunst zu kennen: Die Pelztasse von 1936 (aus konservatorischen Gründen nicht in der Ausstellung), das «Dîner sur la femme» von 1959, die «Röntgenaufnahme des Schädels M.O.» aus dem Jahr 1964, «Einige der ungezählten Gesichter der Schönheit» (1942) und auch «Ma gouvernante – my nurse – mein Kindermädchen» (1936), dessen Schuhe das Plakat der Ausstellung prägen, oder die «Pelzhandschuhe» von 1934 (neu geschaffen 1984 für die Zeitschrift Parkett). Doch diese und weitere ikonenhaften Werke lassen sich erst erfassen, einordnen und verstehen im Zusammenhang mit den sehr vielen kleinen und grösseren Zeichnungen, Bildern, Plastiken, Masken, Mischwerken in zahlreichen Techniken, die in der Ausstellung wieder zu entdecken sind. Sie zeigen – vom kargen Tuschestrich zum bescheiden abstrakt-angedeuteten Geschöpfchen – eine unauflösbare Verbindung von Bild und Titel (zum Beispiel «Kleines Gespenst, Brot essend»).

Ein Qualitätsmerkmal der von Nina Zimmer, Natalie Dupêcher und Anne Umland kuratierten Ausstellung, die anschliessend auch in der Menil Collection (Houston) und im Museum of Modern Art (New York) gezeigt wird, ist die Öffnung des Blicks auf die Titel, auch der kleinsten Zeichnung und das Zusammenspiel von Titel oder anderen Sprachhinweisen und dem Sujet der Bilder. Sie lassen uns eintauchen in die überbordende Fantasie, den Witz, die Weltsicht und deren spöttische Kommentierung der Künstlerin. Da besteht eine Verwandtschaft mit Paul Klee. Meret Oppenheim war ja, das wird beiläufig deutlich, auch Dichterin, Essayistin und Theaterautorin. Zwei Gedichte:

Ich fühle, wie sich mein Auge den Wäldern / und dem Mond zuwendet. / Ich fühle meinen Kompass sich gegen diese / nahrhaften Sprichwörter richten. / Aber mein schönes Krokodil / Mein Krokodil aus Herz – / Wohin geht dein Stolz?

Und: In der Juninacht / Wetterleuchten wie Wellen / am Ufer des Himmels. / Jammer und Drohung – / Wer ruft um Hilfe? / Ein Tal voller Blitze / jenseits der Berge.

1983 fertigte Meret Oppenheim zwölf grosse Zeichnungen an, auf denen sie chronologisch 211 ihrer Werke im Miniaturformat mit Blei- und Farbstift abzeichnet. Sie schreibt auf dem ersten Bild dazu den Zettel: «Diese ‚imaginäre Ausstellung‘ ist nur ein Beispiel. Ich musste viele Werke beiseitelassen, die für mich nicht weniger wichtig sind». «Mon exposition», wie Oppenheim das Ensemble nannte, diente ihr 1984 zusammen mit Kurator Jean-Hubert Martin, zur Einrichtung der Retrospektive in der Kunsthalle.

Indem sie das sogenannt Grosse, Wichtige, Bekannte des Werks von Meret Oppenheim nicht wichtiger nimmt als das Kleinere, weniger Bekannte (etwa den «Kasten mit Tierchen» von 1935/1973) beschenkt uns die laufende Ausstellung mit neuen Einsichten und Eindrücken. Sie lässt uns Meret Oppenheim entdecken als Künstlerin, die in keine Schublade passt, keinen wiedererkennbaren Stil pflegte, immer neu, offen, spielerisch arbeitete – wenn es nicht missverständlich tönte, würde ich sagen: Kindlich und frei.