Eine Seitenstrasse im Gryphenhübeliquartier. Ein unauffälliges dreistöckiges Haus, umgeben von hübschen Gärten. Nur eine Tafel mit der Inschrift «Passantenheim» verrät, dass hinter diesen Mauern Menschen wohnen, die nach der Statistik «wohnungslos» sind. 60 Schlaf- und Wohnplätze bietet ihnen die Heilsarmee hier an. Sie hat dieses Haus, ein ehemaliges Ausbildungszentrum für ihre Offiziere, vor Jahren für Wohnungslose eingerichtet und kürzlich renoviert. Geleitet wird das Haus von Franz Dillier.
«Es kann allen passieren»
Dillier, gläubiger Christ (nicht Heilsarmeemitglied), ist ein ruhiger Endfünfziger, er wirkt abgeklärt und offen zugleich. Bereitwillig gibt er Auskunft, verschweigt auch nicht, dass es in seinem Haus ab und zu wild zugeht, dass seine «Passanten» oft wiederkehrende Problemfälle sind: Alkoholiker, psychisch Angeschlagene, Abgehauene, Ausgesteuerte, Gewalttätige, Süchtige…; dass er aber auch Menschen beherbergt, die bloss für eine Nacht ein warmes Bett brauchen, weil sie Streit mit dem Ehepartner oder den letzten Zug verpasst haben.
Passanten, Gestrandete, Kurzzeitobdachlose: Für Dillier macht es keinen Unterschied. Er bezeichnet alle als «Bewohner*innen» und nimmt beim Empfang unvoreingenommen ihre Personalien auf (Name? Alter? Bisheriger Wohnsitz? Grund der Wohnungssuche? Finanzielle Möglichkeiten?), teilt ihnen einen Schlafplatz zu, übergibt ihnen den Zugangsbadge für die Zimmertüre und das Schrankfach und die Hausordnung. Er sieze alle, sagt er, das sei für ihn selbstverständlich. Und man spürt, dass er sich daranhält, auch wenn seine Kunden ihm mal nicht denselben Respekt entgegenbringen. Die Schicksale dieser Menschen gehen ihm nahe. Auch nach 32 Berufsjahren im Passantenheim.
Ohne Wohnung sein. Dillier weiss, dass dies jedem und jeder buchstäblich den Boden unter den Füssen wegreisst. Und er weiss, dass die Grenze zum rechtschaffenen Bürger mit Wohnung, Job und Bankkonto oft schmal ist: «Es kann allen passieren», sagt er.
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Die Statistik
Die Statistik, die mir Dillier ausdruckt, sagt vieles, aber eben nicht alles. Fast fünfmal mehr Männer als Frauen haben 2021 Zuflucht im Passantenheim gesucht. Mehr Ausländer*innen als Schweizer*innen (59 gegenüber 41 Prozent). 326 davon waren zwischen einer und drei Nächte da, 255 zwischen 4 und 60 und mehr Nächten. Einige wenige sind Dauergäste. Alles in allem waren es 18 155 Logiernächte oder eine Auslastung von praktisch 100 Prozent. Viele Hoteliers würden Dillier um diese Zahl beneiden.
Aber wie viele dieser Menschen sind in Bern gegenwärtig tatsächlich obdach- oder wohnungslos? Dillier verweist uns an Ralph Miltner, den Koordinator Wohn- und Obdachlosenhilfe auf dem Sozialamt der Stadt Bern. Und Miltner macht zuerst einmal darauf aufmerksam, dass Wohnunglosigkeit und Obdachlosigkeit für die Statistik zwei verschiedenen Grössen sind. Er rechnet damit, dass in Bern gegenwärtig rund 30 Personen obdachlos sind, das heisst: regelmässig draussen schlafen. Tendenz leicht steigend. Eine genaue Statistik gibt es jedoch nicht. Auch schweizweit nicht. «Weil diese Menschen sehr mobil sind», erklärt Miltner, «und den Kontakt mit den Behörden meiden, weil sie oft keinen geregelten Aufenthaltsstatus haben.»
Wer eine Bleibe in einer von der Stadt subventionierten Einrichtungen findet, erscheint in der Statistik als wohnungslos. Dafür stehen insgesamt rund 200 Betten zur Verfügung. Die Stadt hat mit den vier Trägerschaften dieser Wohneinrichtungen Leistungsverträge im Umfang von rund 3 Millionen Franken abgeschlossen. Nebst dem Passantenheim sind dies Wohnenbern, Albatros und die Wohngemeinschaft für Frauen
Diese Kosten können von der Stadt dem kantonalen Lastenausgleich zugeführt werden. «Mit unserem Anteil kommen wir gut zurecht», sagt Franz Dillier, und betont, dass man in bestimmten Notfällen auch gratis im Passantenheim übernachten kann. Im letzten Jahr war die Zahl der Gratisnächte mit 1026 gerade rekordverdächtig hoch. Diese Kosten werden jeweils mit Spendenbeiträgen abgegolten.
Der Sleeper
Im Gegensatz zum Passantenheim besitzt der Sleeper, die Notschlafstelle beim Henkerbrünnli, seit mehr als zwanzig Jahren keinen solchen Leistungsvertrag mit der Stadt mehr. Vera, die seit 1988 beim Sleeper arbeitet, erklärt: «Das ist historisch gewachsen. Als die Stadt von uns verlangte, die Personalien der Übernachtenden aufzunehmen sind wir aus der Vereinbarung ausgestiegen.» Betrieben wird die Notschlafstelle vom Verein Pro Sleeper und finanziert sich über Spenden und die Einnahmen des «Dead End», des Lokals im ersten Stock des Gebäudes.
Eröffnet wurde die Bleibe unter dem Namen «Sleep-In» 1981 an der Hodlerstrasse, wo heute die Drogenanlaufstelle steht. Im Frühling 1998 – nach langen Auseinandersetzungen mit der Stadtverwaltung – zog der Sleeper in sein heutiges Zuhause an der Neubrückstrasse 19.
Wer in einem der 20 Betten der Notschlafstelle übernachten will, bezahlt einen Unkostenbeitrag von 5 Franken. Jene Kunden, die über Kostengutsprachen vom Sozialamt verfügen, berappen 15 Franken. Zum Sleeper gehört auch die Gassenküche, die jeden Abend für fünf Franken ein warmes Menü anbietet.
Am farbig bemalten Tisch im oberen Stock des Gebäudes erzählt Vera von ihren vielen Jahren Erfahrung in der Bleibe an der Neubrückstrasse. Seit 1988 gehört sie zum Team des Sleeper, aktuell arbeitet sie zwei Nächte in der Woche und wirkt im Kreativteam mit. Auch zu Zeiten des Lockdown blieb der Sleeper durchgehend geöffnet, kritisch wurde es aber mit der Finanzierung. Das Dead End musste aufgrund der Pandemiemassnahmen zeitweise den Betrieb einstellen, dadurch fiel eine wichtige Einnahmequelle plötzlich weg. Unter dem Motto «Rettet den Sleeper» startete der Verein im April ein Crowdfunding. In der Folge spendeten 351 Unterstützer*innen mehr als 50‘000 Franken.
Seit letztem November erstrahlt das Haus an der Neubrückstrasse gar in neuem Glanz. Die Stadt liess die gelb-graue Fassade der Liegenschaft sanieren. Einen neuen Leistungsvertrag mit der Stadt anzustreben, sei übrigens kein Thema mehr, erklärt Vera: «Wir sind und bleiben eine niederschwellige Institution. Wir trauern dieser Vereinbarung auch nicht nach.» Der Sleeper finanziert sich also weiterhin selbst, auch wenn das bedeutet, dass die Menschen, die sich hier engagieren, dies für einen Unkostenbeitrag tun. Ihre Motivation beziehe sie sowieso mehr aus den Begegnungen, erklärt Vera: «Das Schöne am Sleeper ist: Für die Menschen, die hier gelandet sind, kann es meist nur noch aufwärts gehen.»