Politik - Meinung

Und entfernen müssen wir es doch!

von Noah Pilloud 31. März 2023

Die baupolizeiliche Anzeige eines Berner Anwalts hat die Debatte um das «Illustrierte Wandalphabet» im Schulhaus Wylergut aufs Neue entfacht. Die Diskussion um Denkmalpflege empfindet unser Autor allerdings als verfehlt.

Ein kürzlich auf dieser Seite veröffentlichter Kommentar zum Wandbild im Schulhaus Wylergut kritisierte den Umgang der Stadt Bern mit besagtem Kunstwerk. Der Kommentar strich die Kunsthistorische Wichtigkeit des Werks heraus und bezeichnete das Projekt «Das Wandbild muss weg!» als denkmalpflegerischen Sündenfall.

Ich möchte hier den kunsthistorischen Wert des Werks nicht debattieren. Dafür bin ich wohl der Falsche. Die denkmalpflegerischen Anliegen sind legitim und die Perspektive des Kommentars nachvollziehbar. Ich möchte aber eine alternative Sichtweise auftun.

Solange sich koloniale Kontinuitäten in der Bildung halten, solange wird jede Generation aufs Neue den gelernten Rassismus wieder entlernen müssen.

Ebenso legitim ist nämlich das Anliegen einer Dekolonisierung der Bildung und des öffentlichen Diskurses. Die rassistischen und kolonialen Denkmuster der letzten rund 300 Jahre wirken sich noch bis heute auf materieller und ideologischer Ebene aus. Sie finden sich in Geschichtsbüchern, in der Kunst, ja sie finden sich in jenen philosophischen Schriften, auf denen die Werte der Aufklärung gründen. Jene Werte, auf die sich die meisten modernen Staaten berufen.

Das führt dazu, dass alle, die unter dem Einfluss der sogenannt «westlichen Kultur» aufgewachsen sind, rassistisch sozialisiert wurden. Das ist keine Anklage, sondern eine nüchterne Feststellung. Wer aufrichtig zum Ziel hat, Rassismus zu überwinden, kommt nicht umhin, das eigene Denken zu dekolonisieren. Das bedeutet, koloniale Kontinuitäten ausfindig zu machen und ihre Wirkmacht zu verstehen, um sie zu überwinden.

Recht auf rassismusfreie Bildung

Was auf individueller Ebenen gilt, hat in diesem Fall auf institutioneller Ebene noch mehr Gewicht. Denn solange sich koloniale Kontinuitäten in der Bildung halten, solange wird jede Generation aufs Neue den gelernten Rassismus auf mühsame Art und Weise wieder entlernen müssen. Es sollte also selbstverständlich sein, dass Schüler*innen ein Recht auf rassismusfreie Bildung haben.

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Selbstverständlich ist es keine Lösung, die unangenehmen Kapitel der Geschichte einfach auszuklammern. Selbstverständlich gehört es auch dazu, darauf aufmerksam zu machen, dass sich als links bezeichnende Künstler*innen rassistische Stereotype reproduzieren. Selbstverständlich darf den Kindern zugemutet werden, eine Ambiguitätstoleranz aufzubauen.

Von der ersten Klasse an täglich an einem Wandbild vorbeilaufen zu müssen, das rassistische Stereotype reproduziert, dürfte alledem hingegen kaum zuträglich sein. Für rassifizierte Menschen kommt erschwerend hinzu, von Kindheit an mit diesen verletzenden kolonialen Darstellungen konfrontiert zu sein. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, was ein solches Wandgemälde in einer Primarschule verloren hat.

Ist westliche Kunst besonders erhaltenswert?

So steht nun scheinbar das Recht auf rassismusfreie Bildung dem Anliegen gegenüber, mit hiesiger Kunst sei, problematischem Inhalt zum Trotz, angemessen und denkmalpflegerisch sorgfältig umzugehen. Isoliert betrachtet ergibt das durchaus Sinn, die Bewahrung von Kulturgütern ist eine wichtige Aufgabe.

Die Geschichte der Erhaltung von Kunstwerken und Denkmälern ist eng mit der Idee der Hegemonie verknüpft.

Nur ist das Hervorheben der eigenen Kultur als besonders wichtig und schützenswert Ausdruck postkolonialer Kontinuitäten. Jahrhundertelang wurde die Hegemonie der «westlichen Kultur» propagiert und die Kolonien ihrer Kulturgüter, von den Kolonisator*innen als primitiv betrachtet, beraubt. Die Geschichte der Erhaltung von Kunstwerken und Denkmälern ist eng mit dieser Idee der Hegemonie verknüpft.

Einem Wandgemälde mit rassistischen Darstellungen nachzutrauern, während noch immer tausende indigener Kunstgegenstände in den Magazinen europäischer Museen liegen und nichtwestliche Künstler*innen vor allem dann Beachtung erhalten, wenn sie sich auf den westlichen Kanon beziehen, scheint mir verfehlt und unverständlich. Insbesondere angesichts dessen, dass das Kunstwerk erhalten bleibt und ihm das Projekt eine weitere Dimension verleiht, die seinen kunsthistorischen Wert steigert.

 

Journal B beleuchtet die Sache mit dem Wandbild von verschiedenen Seiten in mehreren Artikeln. Dies ist der zweite Beitrag.
Teil 1: Ein Stoppsignal gegen die Zerstörung von Kunst
Teil 2: Warum das Wandbild bleiben muss