«Leotrimi më ka thirrë: Oj nanë, kqyr se edhe unë kam diçka në bark, jam semut prej barku… Kur ja kam hjek teshat ia kam parë se ju kish qky barku dhe i kishin ra zorrët, ja kam qit xhemperin me ia mbulu, më ka thënë ‘ma nanë, mos um prek se po kam dhimbje shumë…». (Leotrim hat gerufen: Oh Mutter, sieh mal, ich habe etwas im Bauch, ich habe Bauchschmerzen… Als ich unter seine Kleider schaute, sah ich, dass sein Bauch aufgerissen war, seine Därme schauten heraus. Ich habe den Pullover drüber gezogen, um es zu verdecken. Er sagte zu mir, Mama, fass mich nicht an, ich habe grosse Schmerzen…)
Mit diesen Worten erzählte Leotrims Mutter am Jahrestag des Kriegsendes, was sie vor 25 Jahren in ihrem Dorf 30 Kilometer entfernt von Pristina erlebt hatte. Leotrim Ahmeti war ihr Sohn. Er war siebenjährig. Er kam schwerverletzt ins Spital, doch er lebte nur noch knapp drei Stunden. Er ist eines von 1432 albanischen Kindern, die während des Kosovokrieges getötet wurden. Leotrim wäre heute 32 Jahre alt. Für das Verbrechen an ihm und allen anderen Kindern im Kosovo wurde bisher niemand zur Rechenschaft gezogen. Wo bleibt die Gerechtigkeit?
Für die Überlebenden sind die Spuren unauslöschlich
Fünfundzwanzig Jahre später, im Juni 2024 wurde für ihn in Skenderaj, einer Stadt im Herzen Kosovos, eine Statue errichtet. Der Bildhauer, Sabri Behramaj, hat sie geschaffen. Als ich die Statue in den Medien sah (und seine Mutter, wie sie ihre Hand auf das Bein des Bronzebuben legt) konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten. Ich dachte: Liegt uns Albanern und Albanerinnen das Überleben und die Liebe zum Leben wohl in den Genen? Wir mussten so viel durchmachen und dabei stark bleiben.
Als ich nach Kriegsende, im Juli 1999, erstmals nach zehn Jahren in den Kosovo zurückkehrte, erzählte mir mein Bruder, der als Chirurg in Kriegsgebieten arbeitete, von ähnlichen Fällen. Ich war schockiert. Auch über die Fotos von Verletzten und Getöteten, die er während seines Dienstes gemacht hatte. Da gab es Kinder ohne Extremitäten mit grossen Wunden, in denen zum Teil die inneren Organe zu sehen waren. Verursacht hatten sie serbische Granaten oder kalte Waffen. Mein Bruder hat die Verwundeten und Verletzten vor Ort oder in Privathäusern mit minimalen chirurgischen Utensilien und zum Teil ohne Anästhesie behandeln müssen.
Das Bein von Adelina war nicht mehr zu retten. Mein Bruder musste es amputieren
Er erzählt heute noch von einem Fall im Dorf Popovë. Es wurde von den serbischen Streitkräften bombardiert. Innerhalb von dreissig Minuten gab es 34 Verletzte, unter ihnen auch Kinder. Zwei davon waren Geschwister, Adelina und Egzon, sieben und drei Jahre alt. Das eine Kind war am Bein verletzt, das andere am Arm. Das Bein von Adelina war nicht mehr zu retten. Mein Bruder musste es amputieren. Nachdem das Mädchen aus der Narkose erwacht war und sah, dass ihr Bein fehlte, schrie sie: «Doktor ku ma ke lan kamen, ngjitma prap.» («Doktor, wo hast du mein Bein gelassen, bitte mache es wieder dran»). Mein Bruder wird sehr emotional, wenn er es erzählt. Ich auch!
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Als der Krieg zu Ende war, schrieb mein Bruder seine Doktorarbeit über diesen Fall. Heute erzählt er davon nur, wenn man ihn danach fragt. In seinem Gesicht merke ich seinen Schmerz, als wäre alles gestern passiert.
In einer Lesung fragte mich einmal jemand aus dem Publikum, warum mein Buch «Bleibende Spuren» heisst? Der Fall von Leotrim ist eine von 1000 Erklärungen dafür. Ein grausamer Krieg, wie wir ihn im Kosovo erlebten und wie er heute in der Ukraine und in Palästina tobt, geht nie vergessen. Für die Überlebenden sind die Spuren unauslöschlich.