«Um sich im Quartier zu engagieren, braucht man eine gewisse finanzielle Sicherheit»

von Regine Strub 1. Mai 2018

Julia Rogger zu Armut aus Quartiersicht.

Julia Rogger, Quartierarbeiterin im Berner Westen, in den Quartieren Gäbelbach und Holenacker, empfängt mich zusammen mit ihrer Praktikantin Anita Sempach im neuen Quartiertreffpunkt mit dem Namen «Wohnzimmer». Es ist ein ehemaliges Schulzimmer, das mit einer Sofaecke und einem Tisch wohnlich eingerichtet ist. Als Sozialarbeiterin in der Quartierarbeit mit dem Schwerpunkt in den Quartieren Gäbelbach und Holenacker hat Rogger bei sozialen Problemstellungen der Leute hauptsächlich eine Triage-Funktion und vermittelt Betroffene an geeignete Anlaufstellen weiter. Trotzdem bekommt Rogger die soziale Not, die bisweilen nur diskret sichtbar ist, punktuell mit. Da sind zum Beispiel die Kinder, von denen sie hört, dass sie ein Angebot im Quartier wahrnahmen und sich hungrig auf das Z’vieri stürzten, weil sie zuhause nichts zu Mittagessen gegessen hatten. Die genauen Gründe dafür bleiben zwar im Dunkeln, doch machen sie Rogger nachdenklich. Manchmal wenden sich Menschen mit der Bitte um Rat an sie, wenn sie Geldprobleme haben. Zum Beispiel Eltern, die in finanzielle Not geraten sind, weil sie sich dank der Betreuungsgurtscheine zwar die Kita-Plätze leisten können, die Mahlzeiten jedoch separat zahlen müssten. Oder wenn jemand ausserordentlich anfallende Ausgaben wie Zahnarztrechnungen nicht mehr bezahlen kann. Dieses Phänomen, unerwartete Ausgaben nicht mehr selber decken zu können, ist kein Randphänomen. So verfügte gemäss Bundesstatistik im Jahr 2016 rund eine von fünf Personen nicht über die Mittel, um eine unerwartete Ausgabe von 2500 Franken zu decken. Auch die Wohnungssuche gestaltet sich für Menschen mit einem tiefen Einkommen schwierig, erfährt Rogger immer wieder. In den Quartieren Gäbelbach und Holenacker gibt es zwar günstige Wohnungen, aber es bleibt trotzdem schwierig, eine Wohnung zu finden. Unter anderem auch, weil die Liegenschaftsverwaltungen darauf achten, eine gute Durchmischung in den Wohnblöcken zu erhalten.

Verhältnis von Quartier und Armut

Die Quartierarbeit richtet sich zwar an Menschen in benachteiligten Quartieren. Armut ist im Arbeitsalltag aber eher ein Querschnittsthema, als dass die Angebote spezifisch und explizit darauf fokussieren. Die Quartierarbeit hat die insbesondere Aufgabe, die soziale Teilhabe in einem Quartier zu fördern und zu erleichtern, wo diese aus unterschiedlichen Gründen erschwert ist. Das kann sein, weil in einem Quartier der Anteil an tiefen Einkommen hoch ist oder weil vermutet wird, dass die multikulturelle Zusammensetzung den gesellschaftlichen Zusammenhalt erschwert. Die Quartierarbeit unterstützt Projekte, die aus Bedürfnissen im Quartier entstehen und regt die Partizipation an. Sie kann auch Themen aufnehmen, die ihr dringlich erscheinen und die Zusammenarbeit von wichtigen Akteuren anregen, weil sich die Betroffenen nicht alleine organisieren, um ihre Anliegen an den richtigen Stellen einzubringen. So hat die Trägerorganisation der Quartierarbeitenden in Bern, die Vereinigung Berner Gemeinwesenarbeit (VBG), eine Arbeitsgruppe eingesetzt und will das Thema angehen.

«Es gibt zwar einige mutige Leute, die ihre Armut oder Sozialhilfe-Abhängigkeit offen kommunizieren. Doch der grosse Teil schämt sich und zieht sich in die eigenen vier Wände zurück»

Julia Rogger

 

Scham erschwert freiwilliges Engagement

Die gehäufte Anzahl an armutsbetroffenen oder -gefährdeten Menschen hätte zwar das Potential, dass sich diese im Sinne von Community Organizing aktivieren liessen, damit sie sich gemeinsam für bessere Bedingungen einsetzen oder sich gegenseitig unterstützen könnten. Doch Rogger relativiert. Zu unterschiedlich sind die individuellen Umstände und Gründe für Armut und nur weil sich Menschen in einer ähnlichen wirtschaftlichen Situation befinden, heisst dies noch lange nicht, dass sie sich auch gut verstehen und miteinander in Kontakt treten wollen. Weil sich die Betroffenen aus dem sozialen Leben zurückziehen, ist dies eher eine sozialromantische Vorstellung, glaubt Rogger. Einige entwickeln eine bewundernswerte Phantasie, um aus ihrer Situation das Beste zu machen. So weiss Rogger von einer Frau, die mit einem sehr engen Haushaltbudget für eine ganze Familie gesunde und günstige Mahlzeiten zubereitet und immer bestens darüber informiert ist, wann und wo sie günstig einkaufen kann. «Mit wenigen Sachen wie zum Beispiel Toilettenrollen kann sie mit den Kindern etwas basteln, das wirklich schön aussieht». Doch das ist die Ausnahme. Armut kann heissen – muss es aber nicht –, dass jemand viel Zeit zur Verfügung hat. Das wäre eigentlich eine gute Voraussetzung, um im Quartier Freiwilligenarbeit zu leisten. Doch für die Quartierarbeit ist es nicht einfach, solche Freiwillige zu finden. «Es gibt zwar einige mutige Leute, die ihre Armut oder Sozialhilfe-Abhängigkeit offen kommunizieren. Doch der grosse Teil schämt sich und zieht sich in die eigenen vier Wände zurück». Zuweilen begleitet Rogger einzelne Leute über eine längere Zeit hinweg und sucht bei Stiftungen nach Möglichkeiten, um sie zu unterstützen, damit ein freiwilliges Engagement im Quartier überhaupt möglich ist, erzählt Rogger. Das sind meist Leute, die zu ihr ein gewisses Vertrauen gefasst haben. «Man kann sich im Quartier nur engagieren, wenn man über eine gewisse finanzielle Sicherheit verfügt», ist sie überzeugt.

Am Ende des Gesprächs im «Wohnzimmer» kommt eine fremdsprachige Familienfrau mit der Bitte um Beratung ins Büro von Quartierarbeiterin Rogger. Seit zwei ihrer erwachsenen Kinder ausgezogen sind, ist ihre Wohnung gemäss den Sozialdienstrichtlinien zu teuer. Weil sie in der angesetzten Frist keine günstigere Wohnung fand, bezahlt sie seit Monaten die Differenz aus dem sowieso schon knapp bemessenen Grundbedarf der Sozialhilfe.