Politik - Kolumne

Über Wut und Böse

von Jovana Nikic 30. Oktober 2025

Ber(n)trachtungen Wut in Gewalt umzuwandeln, ist keine Lösung, findet unsere Kolumnistin: Ob an einer Demonstration wie der vom 11. Oktober oder im heissen Bus – es sei immer besser, durchzuatmen und Ruhe zu bewahren.

Kennst du das? Du sitzt im Oktober mit der dicksten Winterjacke im Bus, welcher komplett überhitzt ist. Minuten fühlen sich wie Stunden an, aber bis zur Nydeggbrücke schaffe ich es. Vom Bahnhof aus sind es nur wenige Stationen: Bärenplatz, Zytglogge, Rathaus, Nydegg.

Doch kaum 30 Sekunden, nachdem du eingestiegen bist, kommt sie hoch: diese unerklärliche Wut. Am liebsten würdest du dir die Jacke vom Leib reissen, den Schal, den Hoodie über dem Hoodie, aber du hältst es aus. Irgendwie schaffst du es von Zytglogge zur Nydeggbrücke und denkst dir: Jetzt nur nicht ausrasten. Atmen.

Würde die Heizung des Trams plötzlich heruntergefahren, weil du deinen Sitznachbarn anschreist?

Also atmest du, versuchst dich irgendwie damit zu arrangieren. Es ist komplett unangebracht, in diesem Moment deine Wut am Sitznachbarn auszulassen, der sich ein bisschen zu viel Platz von deinem Bussitz ergattert hat. Oder?

Natürlich könntest du nun ausrasten, ihn, wie wir Bernerinnen und Berner so schön sagen, «azünde» – wie die Demonstrierenden für die Pro-Palästina-Bewegung. Aber würde das etwas an deiner Lage ändern? Würde die Heizung des Trams plötzlich heruntergefahren, weil du deinen Sitznachbarn anschreist? Ist es legitim, ihn in diesem Moment mit Worten zu verletzen?

Wütend sein gehört dazu. Ich glaube, wütend sein ist wichtig. Wut zeigt, dass etwas unsere Grenzen überschreitet, dass uns etwas in unserer Moralvorstellung verletzt. Dass der Heizungs-Tachometer überschlägt.

Vielleicht braucht es Taschenlampen statt Fackeln, um auf etwas aufmerksam zu machen.

Wo wäre die Politik, wenn wir nicht etwas Wut in uns hätten, aufstehen und sagen würden, was wir denken? Aber bedeutet Wut immer Gewalt, Zerstörung und Schrecken? Oder können wir die Wut nicht als Energie nutzen, um für etwas einzustehen, ohne Häuser und Strassen mit uns zu reissen? Womöglich lassen sich die Strassen nutzen.

Vielleicht braucht es manchmal weniger Impulsivität und mehr Gespräch, weniger Feuer, denn Feuer bringt nicht nur Licht, sondern auch Verbrennung. Vielleicht braucht es Taschenlampen statt Fackeln, um auf etwas aufmerksam zu machen. Vielleicht braucht es, dass man sich dafür entscheidet, den Schal bei der ersten Station abzulegen, durchzuatmen, bei der zweiten dann die Jacke zu öffnen. Den Herrn, der sich zu viel Platz nimmt, in klarem, unmissverständlichem Ton und in Ruhe darum zu bitten, doch etwas rücksichtsvoller zu sein. Und vielleicht reichen Plakate aus, um etwas zu sagen. Ganz ohne Gewalt.

Wer bewusst «manspreadet», übt Gewalt aus. Mit Gewalt löse ich aber keine Gewalt. Ich zeige darauf, betone und versuche zu leben, wofür ich einstehe: Respekt und Würde. Und dann komme ich, auch wenn es wütend macht, weil gerade alles mega mühsam und nicht fair ist, zur Haltestelle Nydegg, steige aus und atme durch.