«Über die Köpfe der Betroffenen hinweg»

von Evelyn Kobelt 11. Januar 2016

Ladenöffnungszeiten bis spät abends und am Sonntag sollen Berns Untere Altstadt bei den Touristen verkäuflicher machen. Was die Inhaber davon halten, beschäftigt die Politik nicht gross.

Keine Regel ohne Ausnahme, aber die Einigkeit in der Unteren Altstadt ist gross: Über 95 Prozent der zu den geforderten neuen Ladenöffnungszeiten befragten oder sich spontan äussernden Ladenbesitzer und Geschäftsführer wollen ihre Läden und Lokale weder am späteren Abend noch am Sonntag öffnen. Die klaren Meinungsäusserungen sind für die Präsidentin der Vereinigten Altstadt-Leiste (VAL), Stefanie Anliker, nicht überraschend.

Überraschend ist für sie aber, wie hartnäckig unter dem Deckmantel «liberal» der Wille der kleinen Läden in der Unteren Altstadt strapaziert wird: «Die geplante Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten bringt unserem traditionellen Gewerbe und den inhabergeführten Geschäften nicht Freiheiten, sondern beinhaltet Zwänge, die für ihre Betriebsstruktur völlig unangepasst und schlicht nicht zu bewältigen sind. Bereits heute werden die möglichen Öffnungszeiten nicht ausgenutzt. Eine Liberalisierung auf einem derart kleinen Raum ist nicht liberal, sondern wettbewerbsverzerrend.»

Tourismusgebiet?

Aber beginnen wir von vorne. Ausgelöst hat die erneute heftige Debatte in der Unteren Altstadt eine Motion von FDP-Grossrat Adrian Haas. Er verlangte, die Untere Altstadt von Bern zwischen Nydegg und Zytglogge sei als Tourismusgebiet anzuerkennen. Dieses Prädikat würde es ermöglichen, die Ladenöffnungszeiten flexibler zu handhaben. Konkret könnten die Geschäfte täglich (alos auch am Sonntag) von 6 bis 22.30 Uhr geöffnet bleiben, während für die Obere Altstadt weiterhin die normalen Ladenöffnungszeiten gelten.

Seine Motion begründet Adrian Haas folgendermassen: «Die Anzahl Touristen ins Berns Strassen wächst. Vor allem viele Asiaten kommen in die Untere Altstadt. An Sonntagen stehen sie fast nur vor geschlossenen Geschäften. Anders im Berner Oberland. Und diesem Beispiel könnte man auch hier folgen.» Grossrat Haas ist sich aber sehr wohl bewusst, dass die Berner Altstadt und Interlaken zwei Paar Schuhe sind: «Es geht keineswegs darum, jeden Abend bis zehn Uhr die Läden offen zu halten.»

Verdrängungskampf befürchtet

Hätte Adrian Haas die Geschäftsinhaber gefragt, dann wäre ihm wohl rasch bewusst geworden, dass er sich anschickte, in ein Wespennest zu stechen. Er lässt sich aber nicht aus der Ruhe bringen: «Am Schluss wird das nicht mehr so heiss gegessen! Ich war zehn Jahre Geschäftsführer im City-Verband. Da habe ich viele emotionale Diskussionen miterlebt. Tatsache ist doch, dass meine Motion einen sehr grossen Spielraum lässt.»

Dieser «Spielraum» lässt viele Geschäftsführer in der Unteren Altstadt das Schlimmste befürchten. Erst gerade stand in der ersten Jahreshälfte die Tourismusförderabgabe zur Diskussion, für die man die Geschäfte zur Kasse bitten wollte, obschon bei den meisten die Touristen nur einen sehr kleinen Anteil der Kundschaft ausmachen. Und jetzt soll eben diese spärliche zusätzliche Kundschaft als Argument für längere Ladenöffnungszeiten herhalten.

Die längerfristigen Folgen sind auch für Stefanie Anliker absehbar: «Zweifellos würden sich – wie schon in andern Schweizer Städten – noch mehr Ladenketten, Luxusboutiquen und Souvenirläden in der Unteren Altstadt ansiedeln und den Verdrängungsprozess der kleinen unabhängigen Geschäfte beschleunigen. Wenn ein solches Geschäft oberhalb des Zytglogge nicht geöffnet sein darf, wird es vom Markt ja gezwungen, in der Untern Altstadt auch noch einen Laden zu eröffnen.»

Keine Sonderbehandlung für Sonntagsarbeit

In der Diskussion über die Motion Haas im Kantonsparlament wurde oft argumentiert, mit längeren Ladenöffnungszeiten würden zusätzliche Personen eingestellt und so neue Stellen geschaffen. Bei der Abstimmung mag das eine Rolle gespielt haben. Gerade bei diesem Argument ist aber grösste Vorsicht geboten, wie auch der Regierungsrat in seiner Antwort auf die Motion ausführte. Zwar werden die Ladenöffnungszeiten im Allgemeinen – eine Ausnahme machen Bahnhöfe und Tankstellenshops – vom Kanton festgelegt. Aber die Beschäftigung von Personal wird durch das Arbeitsgesetz auf Bundesebene geregelt. Dieses macht klare Einschränkungen und bestimmt, dass an Sonntagen nur in touristischen Gebieten Personal beschäftigt werden kann. In touristischen Gebieten muss «mehr als die Hälfte aller wirtschaftlichen Aktivitäten touristischer Natur sein».

Der Regierungsrat spricht der Unteren Altstadt eine gewisse touristische Attraktivität nicht ab, er gibt aber zu bedenken, für die ganze Stadt Bern liege der touristische Beschäftigungsgrad nur bei rund 6 Prozent der Gesamtbeschäftigung. Von einem bedeutenden Anteil an der Volkswirtschaft könne deshalb selbst in der Unteren Altstadt, wo der Anteil etwas höher liegen mag, nicht die Rede sein.

Von den arbeitsrechtlichen Vorschriften nicht betroffen sind Familienbetriebe. Aber nur, wenn ausschliesslich Verwandte in auf- und absteigender Linie beschäftigt sind. Sie dürfen schon heute ihre Geschäfte offen halten, wobei die grosse Mehrheit von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch macht. Sobald Personal angestellt wird, ist das Arbeitsrecht anzuwenden.

Stadt mit oder gegen Kanton?

Die Diskussion über die Ladenöffnungszeiten in der Stadt Bern ist so neu nicht. Sie wurde in den letzten Jahren sowohl auf Gemeinde- wie auch Kantonsebene schon mehrmals geführt. Im August 2009 reichten CVP-Stadtrat Henri-Charles Beuchat und BDP-Stadträtin Claudia Meier eine Motion mit dem Titel «Besser für den Tourismus – Besser fürs Gewerbe» ein. Inhaltlich unterschied sie sich nicht gross von der Motion Haas, ausser dass sie ausschliesslich die Kram- und die Gerechtigkeitsgasse im Visier hatte.

Der Gemeinderat war im 2010 bereit, die Motion als Richtlinie entgegenzunehmen. Er präzisierte aber in seiner Antwort: «Die Gemeinden haben im Bereich Ladenöffnung keine eigenen Rechtssetzungskompetenzen. Somit kann das gewünschte Ergebnis nicht mit kommunalen Bestimmungen und Reglementen erreicht werden, sondern nur durch eine entsprechende Änderung des Gesetzes über Handel und Gewerbe (HGG). Der Anstoss für eine Teilrevision des HGG könnte durch eine entsprechende Motion im Grossen Rat des Kantons Bern erfolgen. Der Gemeinderat seinerseits wird den Kanton ersuchen, eine Gesetzesrevision zu prüfen.»

Weder die Leiste noch der City Verband scheinen sich damals dem Vorstoss widersetzt zu haben. Aber der Stadtrat warf dann im Sommer 2010 das Ruder herum und lehnte die Motion mit 27:33 Stimmen (6 Enthaltungen) ab.

Gesetzesrevision

Unmittelbar nach dieser Ablehnung lancierte BDP-Grossrat Mathias Tromp trotzdem im Kantonsrat eine Motion mit dem Antrag, das HGG so zu ändern, dass nicht mehr nur ganze Gemeinden als Tourismuszone anerkannt werden könnten, sondern auch kleinere Gebiete und Quartiere, und damit die Altstadt von Bern. Obschon der Regierungsrat die Motion ablehnen wollte, wurde sie im Kantonsrat knapp angenommen. Da sie aber mit dem heute geltenden Arbeitsrecht nicht zu vereinbaren ist, läuft gegenwärtig eine Fristverlängerung.

Motionär Adrian Haas geht davon aus, dass seine Motion nicht von einer Änderung des Bundesrechts (Arbeitsrecht) abhängig ist. Seine Motion wurde am 15. September – ebenfalls entgegen der Meinung des Regierungsrates – mit 74:65 Stimmen (7 Enthaltungen) angenommen. Der Regierungsrat muss dem Parlament jetzt eine Gesetzesänderung vorlegen, die ein «Tourismusgebiet» nicht mit einer Gemeinde gleichsetzt, sondern auch nur auf einzelne Stadtteile, wie zum Beispiel die Untere Altstadt, anwendbar macht.