Trommelklänge in der Kirche

von Zahai Bürgi 20. April 2016

Sobald ich die Wendeltreppe zur Krypta betrat, wurde mein eigentlicher Anlass für diesen Sonntagsgottesdienst in der Kirche St. Peter und Paul am Rathausplatz unwichtig. Es waren es Gesangs- und Trommelrhythmen, die mich in ihren Bann zogen.

Es hätten ebenso gut Gregorianische Gesänge oder Gospel-Spirituals sein können, «religiöse» Klänge eben, die direkt treffen und keinerlei erklärende liturgische Inhalte benötigen. Trotzdem – als das vergleichende Denken wieder eingesetzt hatte – war es für mich beachtenswert, dass in einer christkatholischen Kirche auf diese ungewohnte Weise christliche Rituale praktiziert werden. Der Anblick der grossen rituellen Trommeln in voller Aktion erinnerte mich aber zugleich wieder an den ursprünglichen Grund meines Hierseins.

Verbot, Kompromiss oder Toleranz?

Jede Quartiergemeinschaft kennt die Freuden und Leiden des Zusammenlebens verschiedener Individuen und Menschengruppen. Unterschiede in Wertvorstellungen und Lebensart machen neugierig oder verunsichern, stören oder bereichern das eigene Selbstverständnis. Wo immer sich kulturelle Kreise überschneiden, entstehen Problemzonen. Und will man nicht einfach die verdrängende Macht des Stärkeren «spielen» lassen, müssen sich beide Seiten der Situation stellen und darüber reden, um lebenswerte Lösungen für alle zu finden. Die Kirchgemeinde St. Peter und Paul und die Bewohner von Rathausplatz und Rathausgasse haben genau dies getan.

Kirchenglocken und Trommeln

Endlich Sonntag – man kann ausschlafen und die arbeitsfreie Ruhe geniessen. Das Gehirn hat während des Schlafes das Läuten der nahen Kirchglocken und das Schlagen der Rathausuhren schon längst als dazugehörige Umgebungsgeräusche akzeptiert und ausgeschaltet. Doch dann erklingen neue ungewohnte Klänge und beenden die Träume abrupt: Es sind die grossen rituellen Trommeln und die rhythmischen Gebetsgesänge der Eritreer-Gemeinde, die in aller Herrgottsfrühe in der Kirche St. Peter und Paul den Sonntag feiert. Ein Blick aus dem Fenster macht es nicht besser, da stehen eine Menge wild parkierter Autos rund um die Kirche und in der Gasse.

In den sechs Jahren seit dem Bestehen der Gemeinde St. Georg der eritreisch-orthodoxen Tewahedo-Kirche zu St. Peter und Paul ist deren Mitgliederzahl von ein paar Dutzend Familien auf rund 500 Personen angewachsen. Die anderen in der Schweiz bestehenden Gemeinden befinden sich in Genf, Lausanne und Zürich. Das Einzugsgebiet um Bern ist demnach gross und entsprechend viele Kirchgänger fahren mit dem Auto an. An grossen Festen oder Hochzeitsfeiern der Eritreer kommt es deshalb gelegentlich – zum Ärgernis der Anwohner – nicht nur zu Tänzen und Gesängen mit Trommelbegleitung schon beim Einzug in die Kirche, sondern auch zu einem Parkchaos.

Die Ökumene – Kernauftrag der christkatholischen Kirche

Wechseln wir kurz den Standpunkt und besuchen die christkatholische Kirchgemeinde. Hier empfängt mich Jan Straub, Kunsthistoriker und der Sakristan der Kirche. Zuerst erklärt er mir, aus welchem Grund die Eritreergemeinde hier im Jahr 2009 Einzug gehalten hat: «Ein Kernauftrag der Christkatholischen Kirche ist die konkrete Förderung der Ökumene. Der Bischofsitz St. Peter und Paul am Rathausplatz nimmt diese Botschaft ernst und öffnet – im Sinne einer Simultankirche – seine Räumlichkeiten auch anderen christlichen Konfessionen, die Unterstützung nötig haben. Zuerst waren es die Anglikaner, die im 19. Jh. hier beherbergt wurden. Später folgten Lutheraner, dann die Herrnhuter Brüdergemeinde und die serbisch-orthodoxe Kirche. Und seit sechs Jahren nun nutzt die koptisch-orthodoxe Gemeinde St. Georg aus Eritrea das angebotene Gastrecht.»

Wieweit kann, soll und darf Integration gehen?

Die gegenseitige Verständigung funktioniert aber oft nicht ganz so einfach, wie man es gerne hätte, und Jan Straub erklärt mir die verschiedenen Gründe dafür: «Es gibt gelegentlich Schwierigkeiten vor allem im organisatorischen Bereich, da sich die deutsche und die tigrinische Sprache und damit auch die Denkweisen, die Haltungen, die Auffassungen gewissen Dingen gegenüber und als Folge davon auch die Herangehensweise an verschiedene Aufgaben auf beiden Seiten erheblich unterscheiden. So tiefgreifende Unterschiede im Wertsystem lassen sich nicht einfach durch das Erlernen der anderen Sprache eliminieren. Dies erschwert Kommunikation, Erklärungen und Regelungen und benötigt viel Zeit und Geduld. Wichtig ist uns dabei, dass wir als Kirche nicht mehr missionieren wollen, wir möchten Identität ermöglichen. Die Mitglieder der koptischen Eritreer-Gemeinde sind fast ausschliesslich Flüchtlinge, die durch das soziale und religiöse Zusammenleben in unseren Räumen ein Stück Heimat in der Fremde gefunden haben. Es wurde etwas erreicht, das inzwischen weit über reine Gastfreundschaft hinausgeht», meint Jan Straub, der Sakristan von St. Peter und Paul.

Zusammenarbeit

«Das Nebeneinander von Gottesdiensten und Veranstaltungen unserer Gemeinschaften klappt bereits bestens. Im Oktober 2015 fand das erste offizielle Treffen der beiden Gemeindeleitungen statt. Im Anschluss daran wurde eine Arbeitsgruppe, die «Spurgruppe», aus drei Vertretern der eritreischen und fünf Vertretern der bernischen Gemeinde zusammengestellt. Das Ziel dieser neuen, nun offiziell institutionalisierten Ebene der Zusammenarbeit «auf Augenhöhe» ist die Förderung von Kommunikation und die Nutzung von Synergien. Als Beispiel hat die Eritreergemeinde nun die Kirchenreinigung übernommen, und wir sind dabei, Deutschkurse zu organisieren.»

Die koptische Kirche geht auf die Urchristen zurück

Die koptisch-orthodoxe Kirche – zu denen auch die Eritreer-Gemeinde in Bern gehört – reicht der Legende nach in die Tiefen des Urchristentums zurück. Der Apostel Markus soll sich im 1. Jahrhundert in Alexandrien niedergelassen und viele Ägypter zur neuen Religion bekehrt haben. Im 2. Jahrhundert bildete sich dort eine eigene Kirchensprache heraus, das Geez, die bis heute in der Koptischen Liturgie verwendet wird, ähnlich dem Lateinischen im Christentum.

Am Konzil von Chalcedon im Jahr 451 kam es zu einem Schisma: Man wurde sich nicht einig über die Art und Weise und den Anteil der Gott-Mensch-Natur von Christus. In einigen Ländern spaltete sich in der Folge die sogenannte «altorientalische Tewahedo (= Einheit)-Kirche» ab, unter ihnen waren auch die äthiopischen Kopten. Mit der Unabhängigkeit Eritreas von Äthiopien 1993 spaltete sich die dortige Koptische Kirche ein zweites Mal, und im Jahr 1998 ernannte Papst Schenuda III. einen eigenen Patriarchen für Eritrea. Liturgisch gesehen ist zwischen den beiden Kirchen in Äthiopien und Eritrea bis heute jedoch kaum ein Unterschied feststellbar.

Die Kopten legen weiterhin grossen Wert auf ihre judaische Herkunft. Die Äthiopier betrachten sich sogar als Nachkommen König Salomons. Sie glauben noch heute im Besitz der «echten» mosaischen Gesetzestafeln zu sein, die in der «originalen» Bundeslade in einem Kloster in Aksum streng vor den Augen jeglicher Öffentlichkeit geschützt aufbewahrt und verehrt werden. Jede koptisch-orthodoxe Gemeinde ist bestrebt, ein symbolisches Abbild davon, den Tabot, von ihrem Bischof als Allerheiligstes Gut und Legitimation überreicht zu bekommen. Denn erst durch ihn erhalten die Priester das Recht, in ihrer Kirche die Sakramente (Taufe, Heirat, Eucharistie) zu spenden. Die Bedeutung des Tabot kann durchaus mit derjenigen des Tabernakels der Katholiken verglichen werden. Durch sie ist Gott an diesem Ort wirklich anwesend. Wie 2010 der Berner Tabot vor den linken Seitenaltar der Kirche St. Peter und Paul gelangte, kann jeder Kirchenbesucher auf der dabeistehenden Informationstafel selbst gerne nachlesen. Seitdem sind in der Eritreergemeinde 42 Hochzeiten und 285 Taufen gefeiert worden.

Bekommt St. Georg sein Fest?

Das religiöse Brauchtum und die komplexen und für uns kaum durchschaubaren Rituale besetzen einen grossen Teil des Alltags der Kopten. Während eines Jahres wird zum Beispiel an 210 Tagen auf die eine oder andere Art gefastet. Es gibt zudem unzählige kleine und grössere Feste zu Ehren der vielen Heiligen zu feiern, während denen traditionelle Gesänge und Tänze von nur dafür verwendeten Instrumenten begleitet werden. Solche Gottesdienste dauern bisweilen eine ganze Nacht lang. Jan Straub erzählt mir dazu: «Zurzeit sind wir auf der Suche nach einem Ort, an dem die eritreische Kirche Berns ihr grösstes Fest begehen kann, das jedes Jahr am 14. Mai zu Ehren St. Georgs, ihres namengebenden Gemeindeheiligen, mit einer grossen öffentlichen Prozession begangen wird. Um eine geregelte, störungsfreie und feierliche Durchführung zu garantieren, braucht es wieder viel diplomatisches Geschick und ein wohlwollendes Verständnis auf beiden Seiten. Letztes Jahr hatten wir die wunderbare Gelegenheit, für die Feier das Rathaus benutzen zu dürfen. Für dieses Jahr sind wir noch raum- respektive ratlos…»

Und die Anwohner? Die Vereinigten Altstadtleiste und die Kirchgemeinde St. Peter und Paul haben die «Störmeldungen» und ihre Rolle als Vermittler ernst genommen. Sowohl das Trommeln im Eingangsbereich wie auch das wilde Parkieren haben inzwischen aufgehört. Die Krypta bietet Raum für das eine und das Rathausparking für das andere. Jan Straub hat zusammen mit den Vertretern der Eritreergemeinde auch einige erklärende Kurztexte auf Flyern verfasst, die er gerne an Interessierte abgibt. Alles andere liegt weiterhin im persönlichen Toleranzbereich eines jeden von uns.

Quelle: BrunneZytig 1/2016