Traurige Realität – berührendes Theater

von Basrie Sakiri-Murati 13. Dezember 2022

Unsere Kolumnistin hat erlebt, wie im Theater ein Stück Realität aufgenommen wird. Im Theateratelier Grenchen erzählte sie in einer Collage ihre Flüchtlingsgeschichte. Hier ihre Gedanken zu dieser Produktion von Iris Minder.

Weltweit sind rund 85 Millionen Menschen auf der Flucht, davon über 60 Millionen über lange Zeit. Flucht vor Krieg, Vertreibung oder Hungersnot! Die Folgen dieser Migrationsflut waren schon früher in Europa spürbar, aber momentan sind sie es ausgeprägter denn je. In einigen Kantonen der Schweiz wurde der Notstand ausgerufen: Es mangelt an Unterkünften für Flüchtlinge aus der Ukraine, Afghanistan, Türkei, Syrien, Iran…

Auch in den demokratischen Ländern kämpfen viele Menschen ums Überleben, sie sind gestresst, einsam, depressiv oder in finanziellen Nöten. All diese Punkte beinhaltete das Theaterstück «Überläbe», welches wir an drei Abenden in Grenchen zeigten.

Wir spielten und erzählten die traurige Realität aus einer anderen Welt.

Berührend waren für mich und das Publikum die Geschichten zweier älteren Frauen. Eine (mit Jahrgang 1929) erzählte ab Tonband, wie sie im Zweiten Weltkrieg aus dem Osten Deutschlands vor den Russen in den Westen fliehen musste. Wie sie in ständiger Angst lebte, vergewaltigt oder getötet zu werden. Im Hintergrund liefen Bilder von dieser Zeit. Eine junge Schauspielerin erzählte die zweite Geschichte. Eine Frau (mit Jahrgang 1941), berichtete, wie sie als unerwünschtes Kind von ihrer eigenen Mutter verlassen wurde und zu einer selbstsüchtigen und übergriffigen Pflegemutter kam. Die drei jüngeren Live-Erzählungen, unter anderem meine, schilderten, was erzwungene Flucht bedeutet.

Im grossen Saal war es sehr still. Man konnte denken, die Erzählenden seien allein auf der Bühne.

Es war das erste Mal, dass ich in einem Theater auftrat. Bereits bei den Proben überwältigten mich Emotionen: es war Freude und Schmerz zugleich. Ich musste gegen Tränen kämpfen. Ich freute mich unheimlich, denn ich fühlte mich in der Theatergruppe aufgehoben. Anderseits schmerzte es mich, dass das traurige Thema Flucht, seit ich mich erinnern kann, immer aktuell ist. Wir probten in einer Zeit der Freiheit und ohne Angst vor Flucht, Bedrohung, Krieg und Existenzkampf. Zwei Gegensätze, welche in mir unheimlich viele Gefühle weckten. Wir spielten und erzählten die traurige Realität aus einer anderen Welt.

Totenstille herrschte im Saal, als ich die Bühne betrat. Im Publikum sassen mir zahlreichen Leute jeden Alters gegenüber. Leute, die in einem demokratischen Land aufgewachsen sind. Ich erzählte meine Geschichte und fragte mich, ob sie es sich wirklich vorstellen können, was wir Kosovoalbaner*innen in den 80er- und 90er-Jahren durchmachen mussten. Wie wir uns fühlten, als Militärhubschrauber tief über unser Köpfen flogen? Was in uns vorging, wenn die serbischen Panzer durch die Strassen unseres Landes fuhren und die Erde zitterte? Wie hart wir jahrelang kämpften und welchen Preis wir bezahlten?

Im grossen Saal war es sehr still. Man konnte denken, die Erzählenden seien allein auf der Bühne.

Obwohl ich über eine äusserst sensible Zeit erzählte, fühlte ich mich behütet. In den grossen Augen und erstaunten Gesichtern konnte ich sehr viel Mitgefühl lesen. Das verlieh ein Gefühl, willkommen zu sein. Sehr berührend war für mich auch, wie sich das Publikum nach der Vorstellung mit uns unterhalten wollte. Die Leute stellten Fragen und diskutierten mit uns über das Theaterstück.

Die kleine Aufführung war geschickt inszeniert und von den Schauspieler*innen gekonnt gespielt. Das Publikum wurde sensibilisiert für die Überlebenskämpfe verschiedenster Menschen. Entstanden ist ein Stück, das Mitgefühl und Solidarität für Menschen in Krisensituationen bewirkt. Das gibt Energie zum Weiterleben und Weiterkämpfen.