Träumen in der Ungewissheit

von Noah Pilloud & Maurin Baumann 24. Mai 2022

Die 35-jährige Ukrainerin Maria ist mit ihrer Tochter Angelina aus Kiew geflohen. Von einer solidarischen Siedlung und Integrationsklassen.

Bevor wir mit Maria sprechen können, fordert uns ihre Tochter Angelina jeweils zum Duell beim Mini-Töggelikasten. Beide Male geht sie als Siegerin hervor. «Angelina ist ein sehr sportliches Kind», erzählt Maria. In der Ukraine habe sie eine Sportschule besucht, wo sie unter anderem Ballett tanzte, Karate praktizierte und Fussball spielte.

Wie Maria und ihre Tochter Angelina sind viele Ukrainer*innen in Bern daran, sich ein neues Leben aufzubauen. Integrationsklassen und verschiedene Nachbarschaftsprojekte sollen sie dabei unterstützen. In der Baumgarten-Siedlung, wo Maria und Angelina im Moment wohnen, passiert diesbezüglich schon einiges.

Der Gratis-Laden in der Baumgarten-Siedlung. (Foto: Noah Pilloud).

So gibt es dort etwa einen Gratis-Laden, der jeweils Mittwochs und Samstags für alle Geflüchteten offen ist. Neben gespendeten Kleidern gibt es dort Shampoo, Spielsachen oder Rollkoffer zu finden. Das Projekt organisiert sich weitestgehend über einen Chat. Zu physischen Sitzunge trifft sich das Organisationskomitee – ausschliesslich Frauen aus der Ukraine und der Schweiz – eher selten.

Stichwort Agilität

Umso speditiver und agiler reagieren die Helferinnen auf spezifische Bedürfnisse. «Einmal brauchten wir Katzenfutter», erzählt Marianne Wetter, eine der Initiatorinnen. Die entsprechende Nachricht im Projekt-Chat erreichte umgehend einen Bewohner der Baumgarten-Siedlung, der gerade seine Einkäufe erledigte. Keine zehn Minuten später standen die zwei Säcke Katzenfutter im Laden. «Schneller als jeder Lieferdienst», ergänzt Wetter lächelnd. Der Laden besteht noch bis Ende Mai, da der Raum nur für zwei Monate verfügbar ist.

Im Team arbeiten Anwohnerinnen der Baumgartensiedlung und Ukrainerinnen. (Foto: Noah Pilloud)

Auch Maria hilft jeweils im Laden mit. Sie und Angelina kamen dort nicht nur zu Kleidern und anderen Hilfsgütern, sondern auch zu ihrer Unterkunft. Und sie sind damit nicht die einzigen. Laut den Laden-Betreiberinnen haben viele Quartierbewohnende Wohnraum bei den zuständigen Stellen angeboten – dann aber lange nichts mehr gehört. Die Vernetzung über den Laden funktionierte niederschwelliger und schneller.

Sehr zur Freude von Maria, die sich bei ihrem Gastgeber wohl fühlt. Trotzdem suche sie nach einer eigenen Wohnung. Diese sollte jedoch nicht zu weit weg sein. Denn Angelina besucht die vor zwei Wochen neu gestartete Intensivkurs-Klasse (IK) im Bitzius-Schulhaus.

Prioritäten setzen müssen

Das Gebäude der Schule gefalle ihrer Tochter sehr, erzählt Maria. Da Angelina erst wenig deutsch spricht, übersetzt sie ihre Antworten jeweils. Vor rund 20 Jahren absolvierte Maria in Potsdam und Bremerhaven jeweils ein halbes Jahr ein Praktikum, daher spricht sie fliessend deutsch.

Ihre zehnjährige Tochter hat nun in den ersten Schultagen bereits das lateinische Alphabet erlernt und kann schon ihren Namen und ein paar Sätze auf deutsch schreiben. «Zu den anderen ukrainischen Kindern in der Schule hat sie bisher wenig Anschluss gefunden», erzählt Maria weiter. Umso mehr Freund*innen habe sie im Quartier gefunden, trotz der Sprachbarrieren.

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Dass Angelina, die während des Gesprächs immer mal wieder ihre Mutter nachahmt und die deutsch gesprochenen Sätze wiederholt, später mal Schauspielerin werden will, überrascht nicht. Bei all den Sportarten die Angelina betreibt, ist ihre grosse Leidenschaft aber das Tanzen. Neben Ballett lernte sie in der Ukraine auch Hip-Hop und andere Stile. Das will Maria ihrer Tochter auch in der Schweiz ermöglichen: «Wir haben in Bern schon mal eine Tanzschule besucht, doch aktuell haben wir andere Prioritäten.»

Dazu gehört neben der Wohnungssuche auch die Schule. Zwar würde Angelina am Liebsten schon jetzt eine reguläre Klasse besuchen «aber was soll man machen, nun muss sie zuerst diese Klasse besuchen», meint Maria.

Spielen ohne gemeinsame Sprache

Die IK-Klasse im Bitzius umfasst zur Zeit elf Kinder aus der Ukraine, eventuell werden noch einzelne Kinder dazu kommen. Mariia Veretiuk, eine ausgebildete Lehrerin, die selber im März aus der Ukraine in die Schweiz geflüchtet ist, unterrichtet die Klasse gemeinsam mit einer Schweizer Kollegin und einer Heilpädagogin, die ein Kind mit besonderen Bedürfnissen unterstützt. Dies ermöglicht die sprachliche Verständigung innerhalb der Klasse und hilft auch beim primären Ziel, den Kindern Deutsch beizubringen. Herausfordernd ist dabei insbesondere, dass die Kinder ganz unterschiedlichen Alters sind, nämlich zwischen sieben und zwölf Jahren, und keine Grundkenntnisse der deutschen Sprache besitzen.

Die IK-Klasse des Bitziusschulhauses. (Foto: zvg)

«Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe», sagt Veretiuk. Doch sie werde von der Schule und den anderen Lehrpersonen gut unterstützt. Die Kinder der anderen Klassen hätten die ukrainischen Schülerinnen und Schüler herzlich willkommen geheissen – etwa mit Süssigkeiten und selbstgemalten Bildern. Es sei schön zu sehen, wie sich die Kinder kennen lernen und zusammen spielen. «Obwohl sie noch keine gemeinsame Sprache haben», so Veretiuk.

Bisher wurden in der Stadt Bern 129 ukrainische Kinder und Jugendliche in einen IK eingeteilt und dafür acht zusätzliche Kurse eröffnet. «Die Planung verläuft rollend auf Basis der eintreffenden Anmeldungen», sagt Luzia Annen, Leiterin des Schulamts Stadt Bern, auf Anfrage.

Die Erfahrung aus früheren IK-Klassen zeige, dass die Kinder in der Regel innerhalb von zehn bis zwölf Wochen Deutsch lernen und im Anschluss in Regelklassen integriert werden können.

Die Bildungsdirektion des Kantons Bern (BKD) vermeldet auf Anfrage 1000 ukrainische Schülerinnen und Schüler, die im gesamten Kanton in IK-Klassen eingeschult wurden. Jede neu geschaffene IK-Klasse koste jährlich rund 120’000 Franken, schreibt eine BKD-Mediensprecherin auf Anfrage. «Diese Klassen werden gleich wie alle anderen Klassen über den Lastenausgleich zwischen Kanton und Stadt finanziert», sagt Schulamt-Leiterin Annen.

«Für uns ist es ein grosses Abenteuer», sagt Bitzius-Schulleiter Schenk. Doch bis jetzt laufe es wirklich gut. Vorläufig sei die Klasse bis zu den Sommerferien bewilligt. Die Erfahrung aus früheren IK-Klassen zeige, dass die Kinder in der Regel innerhalb von zehn bis zwölf Wochen Deutsch lernen und im Anschluss in Regelklassen an ihrem Wohnort integriert werden können. Schenk ist optimistisch, dass dieser Zeitpunkt bei vielen Kindern bereits nach den Sommerferien eintritt. Wer für den Spracherwerb allerdings mehr Zeit braucht, wird noch einige Wochen länger im IK-Kurs verbleiben können.

«BoBeBa»: Boutique-Begegungsort-Baumgarten

Ganz so schnell wie bei den Schulkindern wird es bei den Erwachsenen wohl nicht gehen, doch auch für sie gibt es schon viele Angebote für Deutschkurse. So auch im Gratis-Laden der Baumgarten-Siedlung. «Zu Beginn des Projekts schrieben uns diverse Leute, was sie an Gütern oder Dienstleistungen anbieten können – eine Anwohnerin bot dann Deutschkurse an», sagt Marianne Wetter.

In der «BoBeBa» gibt es auch Spielsachen. (Foto: Noah Pilloud)

Da aber viele der Geflüchteten weder deutsch noch englisch sprechen, gestaltet sich die Kommunikation im Laden zuweilen schwierig. Doch da helfen die Ukrainerinnen im Team gerne aus. «Sie können nicht nur übersetzen, sie wissen auch viel besser, was die Leute brauchen», sagt Lucia Malär, auf deren Idee der Laden zurückgeht. «Manchmal werden uns auch Fragen gestellt, die nicht so wichtig sind, die müssen wir gar nicht erst übersetzen», meint Julia, eine der helfenden Ukrainerinnen, lachend.

So hat sich die Boutique in der Baumgarten-Siedlung auch zu einem Ort entwickelt, an dem Informationen ausgetauscht werden. Auch hier wirkt das Prinzip der Niederschwelligkeit. Zum Teil wurden hier Fragen beantwortet, die an den Schaltern nur zu Achselzucken geführt hatten.

Das kleine Quartierkino dient nun als Lager. (Foto: Noah Pilloud)

Nicht zuletzt ist das Projekt ein Treffpunkt. Das zeige sich auch daran, dass diejenigen Geflüchteten, die mittlerweile woanders hingezogen seien – in die Lenk etwa oder nach Morges – noch immer hierher kämen, um sich auszutauschen, erklären die Frauen vor Ort.

Wer sich dies aber nur entspannt vorstellt, irrt sich gewaltig. Als es einst stürmte und ein starker Donner einschlug, «zuckte eine Ukrainerin neben mir zusammen», erzählt Malär. Sie sei fast zusammengebrochen, «fing an zu weinen – und wenig später weinten wir beide.» Es sei schwierig, «das alles» zu vergessen, ergänzt Yevheniia. Sie selber habe über einen Monat gebraucht, um nicht mehr bei jedem vorbeifliegenden Flugzeug, bei jeder vorbeiziehenden Sirene zusammen zu zucken.

Tabuthema Krieg

An Angelina und Maria ist der Krieg auch nicht spurlos vorbeigegangen. Angelina protestiert, wenn wir ihre Mutter danach befragen. Erstaunlicherweise reagiert sie sofort, obwohl sie die deutsch gestellten Fragen wohl kaum versteht. Sie insistiert: Maria dürfe nicht über den Krieg sprechen. Also blicken wir gemeinsam in die Zukunft.

Vor dem Krieg hegte Maria lange den Traum, einmal nach Kanada auszuwandern. «Ich könnte mir das immer noch vorstellen», meint sie. Aber vorerst bleibe sie in der Schweiz, suche sich eine Arbeit und verbessere ihre Deutschkenntnisse. Angelina hingegen wolle in der Schweiz bleiben, erzählt Maria weiter: «Angelina hat mir bereits gesagt, sie bleibe hier, auch wenn ich nach Kanada oder zurück in die Ukraine gehe – so gut gefällt es ihr hier.»

Ob Angelina dereinst ihren Traum, Schauspielerin zu werden in der Schweiz oder anderswo verwirklichen wird, ist ungewiss. Solange der Krieg in der Ukraine andauert, ist aber Bern das neue Zuhause von Maria, Angelina und vielen weiteren Geflüchteten aus der Ukraine. Damit sie ihr Leben hier frei gestalten können, ist es wichtig, dass entsprechende Angebote und Projekte weiterhin unbürokratisch und niederschwellig möglich sind.