«Uf d Stör ga», hält Ruth Bietenhard in ihrem Berndeutschen Wörterbuch fest, bedeute eine Arbeit im Haus des Arbeitgebers auszuführen. Wer auf die Stör geht, sucht Arbeitgeber und arbeitet bei ihnen.
«Tönstör» heisst eine Aktion der Musikvermittlung in der Stadt und im Kanton Bern. 2008 hat die Flötistin Barbara Balba Weber sie ins Leben gerufen. «Tönstör», weil sie mit nichts als Tönen auf die Stör ging. Ihre Arbeitgeber waren Lehrpersonen, die Arbeit bestand im Töne finden, erkennen, erzeugen in Schulklassen.
Am Anfang sind Töne
So präzis und gleichzeitig so poetisch verrätselt kann eine Arbeit benannt sein, die allen die Ohren öffnet, das Gehör schärft, Klangmöglichkeiten erweitert. Und die im Zusammenspiel zwischen Schülerinnen und Schülern sowie mit Musikerinnen und Musikern den Hör-, den Seh-, den Tastsinn ausbildet. Denn um Töne zu machen braucht es noch kein Instrument, der eigene Körper genügt, ein Bleistift, ein Glas, ein Radiator und so fort.
Fast alles tönt, wenn man es anfasst und bewegt. Die Fantasie führt zu Tönen, die Töne regen die Fantasie an. Es entstehen Tonfolgen, erste Melodien, Stimmen werden erkennbar, Geschichten lassen sich erzählen. Ist das Musik? Es sind Töne, zufällige zuerst, bestimmtere und bestimmbare mit der Zeit. Irgendeinmal wird das Musik.
Die Musik unseres Seins
«Was konnte man dem Lärm der Zeit entgegensetzen?», lässt Julian Barnes in seinem Roman den russischen Komponisten Schostakowitsch fragen. «Nur die Musik, die wir in uns tragen – die Musik unseres Seins –, die von einigen in wirkliche Musik verwandelt wird. Und die sich, wenn sie stark und wahr und rein genug ist, um den Lärm der Zeit zu übertönen, im Laufe der Jahrzehnte in das Flüstern der Geschichte verwandelt.» (2017)
Seit kurzem führt eine Gruppe jüngerer Musikerinnen und Musiker und Musikvermittlerinnen und-vermittler um Thomas Jacobi und Laura Schuler Webers Werk fort. Sie haben rasch Kontakte in Kindergärten, im Klassen der Primarstufe und auch der Sekundarstufe II gefunden. Ich hatte Gelegenheit, zwei Besuche machen zu dürfen.
Kindergarten Winterhalde
Ein regnerischer, kühler Morgen. 24 Kinder beleben den nicht allzu grossen Raum. Neugierig betasten sie den Geigenbogen, das Rosshaar, den Schulterhalter der Geige. Nun sitzen sie im Kreis, still, ernst. Die Musikerin Silke Strahl und die Musikvermittlerin Laura Schuler von «Tönstör», die Kindergärtnerin, später zudem eine Heilpädagogin. Silke Strahl spielt mit dem Saxophon eine kleine Melodie, von der Schulers Geige begleitet. Am Platz, zuerst nur mit dem Gesicht, mit den Armen sollen sie Gefühle ausdrücken, die die Melodie in ihnen weckt. Die Kinder lachen, klatschen fröhlich.
Eine neue Melodie – jetzt empfinden einige Angst, andere Trauer, weitere träumen.
In immer neuen Stimmungslagen gespielt, löst das kleine Musikstück auch Wut und Zorn aus. Nun stehen die Kinder, stampfen, klatschen, boxen rhythmisch in die Luft. Alle durcheinander und trotzdem aufeinander bezogen.
Nach der Pause geht es weiter im kalten Vorraum, der Garderobe mit geklinkertem Steinboden. Die Kinder kommen in Gruppen zu fünft, sechst. Sie suchen sich Instrumente: einen Stuhl, ein Blechstück, ein Glas, Holztütschi, Raschelsäcklein, Papierblätter. Reihum darf jedes würfeln, welche Stimmung gilt. Die Musikerin stimmt das Lied an, alle fallen ein und lassen durch Reiben, Schlagen, Schütteln, Klopfen ihre Instrumente ertönen: Lustig, traurig, zornig. Ihr Körper ist auch Instrument: Klatschen, Stampfen, Fingerschnippen, Pfeifen, Haarzöpfchen schütteln.
Natürlich sind die einen bei der Sache, tragen andere ihre Langeweile demonstrativ zur Schau. Disziplin zu halten, ist eine grosse Aufgabe. Dennoch: Alle Kinder be-greifen ihre selbst gefundenen Instrumente und entdecken rasch, wie sie Töne erzeugen können.
Primarschule Wylergut
Ein milder später Vormittag. Die Klasse 4.-6. Schuljahr stürmt nach der grossen Pause ins sonnige Zimmer, das vollgestellt ist mit Pültchen und anderem Mobiliar. 22 Kinder voller Energie, der Musiker Wael Sami Elkholy und Musikvermittler Thomas Jacoibi von «Tönstör», die Klassenlehrerin. Die Hauptprobe steht an, in der nächsten Woche wird das Erarbeitete andern Klassen vorgestellt.
Da die Zeit knapp ist, wird der Ablauf der anderthalb Stunden klar und deutlich bekannt gegeben: Den Anfang bildet ein Lied zum arabischen Alphabet, dann erzählen die Kinder mit arabischen Lauten und Buchstaben in drei Gruppen je eine Geschichte (eher ein Rätsel); die Geschichte wird am Schluss vertont und gesungen. In mehreren Schritten wird Fremdheit erzeugt und – teilweise – durch Gewöhnung aufgelöst. Eine schöne Idee.
In der Schulpraxis schlägt Begeisterung oft um in eigenes Tun ohne Bezug zum Geforderten. Es fordert viel Geduld, Klarheit, Entschiedenheit, dass alle gleichzeitig auf das Gleiche fokussieren. Mit Abstrichen gelingt dies den «Tönstör»-Leuten dank bewundernswerter Hartnäckigkeit.
Das Buchstabenlied singen alle begeistert, laut und recht sicher. Anschliessend liest ein Mädchen die Geschichte auf Deutsch vor. Die anderen erzählen mit ihnen zugewiesenen arabischen Lauten und Buchstaben mit, erzeugen zur Kennzeichnung bestimmter Figuren (Enten, Schildkröte) bestimmte Geräusche mit dafür angefertigten «Instrumenten». Langsam schält sich eine Struktur des erzählten Geschehens heraus.
Am Schluss kommt die Klasse im Musikzimmer zusammen. Eine Gruppe trägt ihre Geschichte vor, die anderen hören zu. Oder besser: Sie sollten zuhören. Der Geräuschpegel steigt. Es ist schwierig, die Kinder bei der Stange zu halten, wenn sie gerade nicht im Einsatz sind. Trotzdem ist es beeindruckend, wie stark alle in wenigen Lektionen mit Aussenstehenden eine anspruchsvolle Aufgabe mit Tönen, Sätzen, Geräuschen und Melodien erarbeitet haben.
Ungesichert
«Tönstör» hat sich längst aus einem Experiment in ein Projekt, ja in eine regelmässige Aktion weiterentwickelt, die eigentlich nicht mehr wegzudenken ist. «Eigentlich», weil die Finanzierung durch den Kanton läuft, aber in der Stadt Bern harzt. Das Schulamt, das die Aufgabe von KulturStadtBern (ehemals Abteilung Kulturelles) übernehmen musste, arbeitet sich erst ein und ist knapp an Geld. KulturStadtBern, 2008 Geburtshelferin, entfremdete sich «Tönstör» nach und nach und war nie warm für die Vermittlung von Kultur in Schulen. Die Nachfrage boomt: Viel mehr Lehrpersonen möchten Projekte buchen als es der verfügbare Kredit zulässt. Dies belegt den Nutzen der Arbeit mit den Tönen für alle.
Dass gerade dieses demokratische Instrument so knappgehalten wird, ist unverständlich: Es widerspricht der Behauptung, wie wichtig Kulturvermittlung und Teilhabe an der Kultur für unsere Gesellschaft seien. Und es verkennt die einzigartige Bedeutung der Kultur in der Schule. Nur dort kommen Kinder und Jugendliche aus jeder Herkunft in der Klasse zusammen und – unabhängig vom Elternhaus – mit Kultur in Berührung. Für den Zugang zur Kultur ist die Schule gewiss nicht alles, aber ohne Schule ist alles nichts. Das ist ein wenig zugespitzt, aber kaum übertrieben.