«Tief und hoch, laut, leise, Dur und Moll: Alles ist dabei»

von Susanne Leuenberger 13. Juni 2023

Seit gut einem halben Jahr ist Christian Barthen Titularorganist am Berner Münster. Nun startet seine erste Abendmusiken-Reihe «De Profundis». Ein Gespräch darüber, wieso er ausgerechnet mit Tiefe seinen Einstand gibt – und was ihn an Max Reger nicht loslässt.

Christian Barthen, wie lebt es sich in Bern – oder anders gefragt, waren Sie schon in der Aare? 

Christian Barthen: In der Aare nicht, aber in der Sense! Die ist näher an meinem Wohnort. Meine Familie und ich leben uns gut ein, der grosse Umzugsstress von Deutschland in die Schweiz liegt hinter uns. Ich liebe die Natur hier und die Nachbarn kommen auch mal spontan auf einen Kaffee vorbei.

Und wie fühlen sich die Orgeln im Münster an? Ihr Vorgänger Daniel Glaus meinte einmal, dass eine intuitive, ganz intime Freundschaft ihn mit der Hauptorgel verbinde. Sie spüre ihn und er sie, wenn er spiele.

Das hat er schön gesagt. So eng kenne ich die Orgeln ja noch nicht. Aber ich würde sagen, die Chemie stimmt auch zwischen uns. Das merkte ich beim allerersten Vorspiel. Es ist schon so: Orgel und Organist*in müssen zusammenpassen. Ich mag den Klang ihrer Farben, die sanften Flöten, die kernigen Trompeten. Die tönen fantastisch. Es ist ein Privileg, hier spielen zu können.

Als dann ein Organist fehlte, sprang ich ein. Da war ich etwa 11 oder 12. Mit 13 Jahren unterschrieb ich dann meinen ersten Vertrag als Kirchenmusiker. Seither habe ich, ausser in den Ferien oder wenn ich krank war, jeden Sonntagmorgen gespielt.

Sie haben auch schon auf den Orgeln der Notre-Dame de Paris gespielt.

Ich studierte ab 2011 in Paris bei Philippe Lefebvre. Zum Unterricht trafen wir uns meistens spät abends oder nachts an der Hauptorgel der Notre-Dame. Ich spielte, er gab mir dabei Anweisungen und rauchte Kette. Schlaf kannte ich in der Zeit wenig. Aber es war grossartig. 2013 konnte ich in der Kathedrale auch als Solist konzertieren.

Der Brand von 2019 muss sie mitgenommen haben. Haben die Orgeln Schaden genommen?

Ich war erschüttert über die Zerstörung. Wie durch ein Wunder blieb die Hauptorgel relativ unversehrt, aber die schöne Chororgel wurde meines Wissens stark beschädigt.

Die Orgel steht in Kirchen und in einer sakralen Musiktradition. Die Gesellschaft entfernt sich von der Religion. Wie kamen Sie als junger Mensch zur Orgel?

Ich bin tatsächlich in der Kirche aufgewachsen. Meine Eltern sangen im Chor, ich begleitete sie in den Gottesdienst, und eines Tages setzte ich mich an die Orgel. Sie faszinierte mich, und ich begann zu üben. Als dann ein Organist fehlte, sprang ich ein. Da war ich etwa 11 oder 12. Mit 13 Jahren unterschrieb ich dann meinen ersten Vertrag als Kirchenmusiker. Seither habe ich, ausser in den Ferien oder wenn ich krank war, jeden Sonntagmorgen gespielt.

Selbst als Pubertierender schafften sie es sonntags früh aus dem Bett?

Auch wenn es unglaublich klingt: Ich habe kein einziges Mal verschlafen.

Kehren wir zurück zum Münster. Hier gibt es eine Tradition der Uraufführungen zeitgenössischer Orgelmusik. Wollen Sie die weiterführen?

Ohne diese Tradition der Innovation verlöre das Münster seinen exquisiten Ruf. Hier werden weiterhin zeitgenössische Werke uraufgeführt, dazu werden Grössen aus der Orgelwelt eingeladen. Wobei ich sagen muss, dass ich im Gegensatz zu meinem Vorgänger Daniel Glaus nicht komponiere, sondern vor allem Interpret bin. Dabei bewege ich mich sozusagen in der Mitte: Ich mag auch sehr frühe und auch ganz neue Musik, trete aber vor allem mit den Hauptwerken von Bach und denen des 19. und 20. Jahrhunderts auf.

Zum Unterricht trafen wir uns meistens spät abends oder nachts an der Hauptorgel der Notre-Dame. Ich spielte, er gab mir dabei Anweisungen und rauchte Kette. Schlaf kannte ich in der Zeit wenig. Aber es war grossartig.

Sie starten Ihre erste «Abendmusiken»-Saison mit Max Reger und Johann Sebastian Bach. Was mögen Sie an den beiden?

Bach steht für sich selber. Reger habe ich gar nicht gesucht, er hat mich immer wieder gefunden, und mittlerweile bin ich schon fast ein wenig auf Reger programmiert. Er war Visionär. Er hat das Orgelspiel komplett neu erfunden in ­einer Zeit, als es nicht besonders en vogue war: die unglaublich komplexen Klangwechsel von ganz leise zu ganz laut, diese dynamischen Prozesse der Klangentwicklung dazwischen, die orchestrale Vielfarbigkeit und vieles mehr. All das sprengte alles zuvor Bekannte. Vieles lässt sich erst heute mit den ­Mitteln der Elektronik realisieren, weil es zuvor spieltechnisch kaum machbar war.

Mit dem jungen Berner Organisten der Pauluskirche, Lee Stalder, teilen Sie die Faszination für Reger. Sie spielten bereits im Rahmen seiner «Reger Bern 23»-Reihe anlässlich des 150. Geburtstags. Konnten Sie sich musikalisch in Bern auch sonst schon vernetzen?

Man hat mich gut willkommen geheissen. Kollege Lee Stalder kam auf mich zu, und ich freue mich, mit ihm, aber auch mit Kollege Samuel Cosandey von der Nydegg-Gemeinde weitere Projekte zu lancieren. Da ist so viel Talent in Bern. Ich freue mich auch auf die Abendmusiken mit der Berner Kantorei, dem Berner Kammerchor und dem Jugendchor des Berner Münsters. Gleichzeitig werde ich natürlich weiterhin hochkarätige Musiker*innen aus dem In- und Ausland einladen. So wie man das von den Abendmusiken kennt.

Das Motto ist «De Profundis»,  aus der Tiefe. Ein schwerer Einstand.

Ja und nein. Natürlich ist der Hintergrund die Schwere der Gegenwart mit dem Krieg und der Klimakrise. Inspiriert hat mich dabei der Psalm 130: «Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir». Da ist aber durchaus eine Dynamik drin, denn es schwingt auch das Dialogische, die Hoffnung und die Möglichkeit des Aufstiegs mit. Musikalisch heisst das: Hoch und tief, laut, leise, Dur und Moll – alles wird dabei sein.

Am Auftaktkonzert spielen Sie alleine. Sind Sie eigentlich noch aufgeregt?

Klar. Ich brauche diese Spannung, um konzentriert spielen zu können.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei der Berner Kulturagenda.