«Theater ist immer politisch»

von Janine Schneider 26. Januar 2024

B-Kanntschaft Die Schauspielerin Genet Zegay bleibt ein weiteres Jahr im Ensemble von Bühnen Bern. Ein Gespräch über die Notwendigkeit verschiedener Perspektiven, die Kunst loszulassen und eine besondere Lieblingshexe.

Journal B: Woher kommst du gerade?

Genet Zegay: Von einer Probe, wir haben soeben ein neues Stück angefangen. Es ist gerade wahnsinnig viel los. Parallel führen wir jetzt im Dezember die unendliche Geschichte etwa zwanzig Mal auf. Das ist sehr sportlich. Aber es ist auch die Kunst dieses Berufs, jedes Mal so zu spielen als wäre es das erste Mal.

Ich war am Donnerstag in einer Aufführung der unendlichen Geschichte. Da waren gefühlt zwanzig Schulklassen im Stadttheater. Es war sehr laut und lebendig. Wie ist es für dich, vor Kindern zu spielen?

Kinder sind ein sehr ehrliches Publikum. Ich habe vor Bern in Hamburg Kinder- und Jugendtheater gemacht. Da kamen viele Kinder, die noch nie ins Theater gegangen sind. Und ich habe sehr viel Sinn darin gesehen, diese abzuholen und fürs Theater zu begeistern. Denn ich glaube, dass Theater immer noch ganz dringend seinen elitären Touch loswerden muss. Deshalb finde ich es sehr schön, jetzt wieder mal vor Kindern zu spielen.

Du bist im Sommer 2021 nach Bern gekommen. Was war dein erster Eindruck der Stadt?

Sie war sehr einladend. Ich bin zuvor für eine Woche hierhergefahren, um zu schauen, ob es mir gefällt. Ich war irgendwo auf dem Land in einem Airbnb. Es war megaschön und ich dachte mir, ich muss einfach aufs Land ziehen und dann fahr ich immer mit dem Fahrrad in die Stadt. Das war meine Traumvorstellung – was jetzt natürlich absolut nicht der Fall ist (lacht).

Genet auf dem Nachhauseweg im Dezember 2023. (Foto: David Fürst)

Nun hast du dich entschlossen, eine weitere Saison zu verlängern. Was hat dich dazu bewogen?

Wenn man mit einem neuen Team anfängt, hat man viele Möglichkeiten, mitzugestalten, das gefällt mir total. Gleichzeitig hat es eine Weile gedauert, bis wir hier angekommen sind und die Stadt uns auch wahrgenommen hat. Und nun läuft die aktuelle Saison gerade ganz schön. Ich habe endlich mal ein bisschen Leute ausserhalb des Stadttheaters kennengelernt und fühle mich gerade sehr wohl hier.

Es macht einfach Spass, eine Hexe zu spielen.

Hattest du in den zwei Spielzeiten bisher eine Lieblingsrolle?

(überlegt kurz) Ach ja! Wir haben das Stück «Hänsel & Gretel & the Big Bad Witch» von Kim de l’Horizon aufgeführt. Und da gab es eben die Big Bad Witch… Das war eine tolle Zusammenarbeit: Wir waren ein ganz junges Team und es gab viele Improvisationsmomente. Und es macht einfach Spass, eine Hexe zu spielen.

In der Garderobe vor dem Spiel: ein Leben nach Annie Ernaux. (Foto: David Fürst)

Neben dem Theater übernimmst du auch Sprechrollen und spielst in Filmen mit. Was ist für dich der Unterschied zwischen Schauspiel fürs Theater und für den Film?

Ein grosser Unterschied ist die Vorbereitung. Im Film musst du sehr gut vorbereitet ans Set kommen, denn oft werden die Szenen nicht chronologisch gedreht. Du musst in jede Szene reinspringen können. Und am Schluss entscheiden noch ganz viele andere Leute darüber, was nun genau zu sehen ist. Für mich ist Theater dagegen viel gemeinschaftlicher. Ein Stück entwickelt sich über Wochen hinweg in einem Gruppenprozess. Dafür ist die Reichweite im Theater viel kleiner. Im Tatort hast du vielleicht nur fünf Sätze, aber die sehen 9 Millionen Menschen. Aber schlussendlich mach ich alles gerne, auch die Sprechrollen. Mir wird schnell langweilig. Ich glaub, ich könnte nicht nur etwas machen.

Als Schauspieler*in ist man viel unterwegs. Wie schaffst du es, Freundschaften zu pflegen und Kontakte aufrechtzuerhalten?

Das Schöne ist, dass ich in ganz vielen Städten Menschen kenne, die ich besuchen kann. Aber natürlich muss man auch immer mal wieder Leute gehen lassen. Das ist auch bei jeder neuen Produktion der Fall: wenn Gäste oder ein auswärtiges Regieteam kommen. In diesem Beruf muss man lernen, Leute kommen und gehen zu lassen. Das ist manchmal gar nicht so leicht.

Für mich ist Theater viel gemeinschaftlicher.

Früher war Theater sehr männerdominiert. Wie ist das heute?

Ich beobachte, dass es als Frau nach wie vor schwieriger ist, sich im Theaterbetrieb langfristig zu behaupten. Es ist zum Beispiel, wie überall sonst auch, schwierig, wieder in den Beruf zu finden, wenn man sich als Frau für Kinder entschieden hat. Ausserdem gibt es gerade bei Frauen eine gewisse Altersdiskriminierung. Es gibt weniger Rollen für ältere Frauen. Und junge Schauspieler*innen sind für die Häuser auch günstiger. Aber es wird zum Glück immer mehr darauf geachtet, dass die Ensembles durchmischter sind. Und es gibt auch immer wieder Forderungen nach Quoten – das finde ich gut! Im Idealfall sollte ein Ensemble schliesslich die Gesellschaft repräsentieren. Beim Stück «Ein Leben» spielt die 82-jährige Nikola Weisse zum Beispiel die alte Annie Ernaux, die auf ihr Leben zurückblickt. Und das ist toll. Meine Oma sass da drin und hat sich total gesehen gefühlt.

Bei den Proben zu einer unendlichen Geschichte. (Foto: David Fürst)

 

Du bist jetzt 31, spielst aber oft viel jüngere Rollen. Ist das üblich?

Ganz früher gab es so klare Typbesetzungen. Da gab es sogar Verträge, in denen es hiess «du bist der jugendliche Liebhaber». Und dann wäre ich in jedem Fall «die junge Naive» gewesen. Total bekloppt. Heutzutage können wir viele unterschiedliche Rollen spielen, aber natürlich gibt es die Tendenz, dass ich hier in unserem Ensemble in Bern die jungen Mädchen spiele. Das ist in Ordnung. Mit etwas Abstand kann man auch besser reflektieren und eine Rolle anders gestalten, als wenn man mittendrin in dieser Lebensphase steckt.

Wir erzählen doch Geschichten, damit sich Menschen darin wiederfinden können.

Hinter der Bühne. (Foto: David Fürst)

Wie wichtig ist es, dass die Perspektive einer Rolle mit den eigenen Erfahrungen korreliert, um diese spielen zu können?

Die Frage ist immer, wo Repräsentation anfängt und wo sie aufhört. Wir müssen an den Punkt kommen, an dem alle alles spielen können. Schlussendlich ist Schauspiel die Möglichkeit und Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können. Und doch macht es einen grossen Unterschied, wer da auf der Bühne steht. Für mich ist das ein sehr wichtiges Thema. Es ist zentral, dass die Ensembles und Theaterhäuser diverser werden, denn nur so finden andere Perspektiven, Geschichten und Stoffe Einzug. Wir dürfen nicht nur Geschichten erzählen, in denen sich bloss ein Teil der Gesellschaft repräsentiert fühlt. Denn wir erzählen doch gerade Geschichten, damit sich Menschen darin wiederfinden können. Dazu muss die eigene Biografie aber nicht unbedingt mit der der Rolle übereinstimmen. Ich kann mich vielem auch gerne zur Verfügung stellen.

Kannst du ein Beispiel dafür geben?

Im Stück «Ein Leben» geht es viel um sexuelle Gewalt und um Abtreibung. Das habe ich zum Glück selber nicht erlebt. Aber bei den Aufführungen entsteht eine starke emotionale Verbindung mit dem Publikum, eine Art kollektives Gedächtnis. Ich erzähle nicht meine Geschichte, aber ich kann mich dem total zur Verfügung stellen. Ich muss so etwas nicht erlebt haben, um davon zu erzählen. Aber vielleicht würde ich es anders erzählen, wenn es mir passiert wäre… Es ist immer eine Abwägung: Wo braucht es eine Innen- und wo eine Aussenperspektive? Was aber nicht geht: dass Geschichten über Leute erzählt werden und diese in keiner Weise daran beteiligt sind.

Was findest du die grösste Herausforderung im Schauspiel?

(denkt sehr lange nach) Für mich ist Theater immer politisch. Das Leben ist politisch! Aber im Theater hast du eine besondere Verantwortung. Alles, was du spielst, findet auf einer Bühne statt, wird gehört und gesehen. Und manchmal gibt es Stoffe, die ich schwierig finde, mit meiner politischen Haltung zu vereinbaren. Ich mag es auch sehr, mich mit solchen Stücken oder Rollen auseinanderzusetzen, aber es ist schon eine Herausforderung. Und gleichzeitig möchte ich künstlerisch auch offen bleiben und mich nicht festfahren.

Gab es Situationen, in denen du gesagt hast «Nein, das spiele ich so nicht»?

Ja, auf jeden Fall.

Probe (Foto: David Fürst)

Wie stark können die Schauspieler*innen eigentlich mitentscheiden, welche Stücke gespielt werden?

In Bern gibt es offene Dramaturgiesitzungen. Da können alle Vorschläge machen und die werden dann gemeinsam diskutiert. Am Schluss liegt die Entscheidung natürlich bei der Dramaturgie. Aber es gibt die Möglichkeit, Ideen einzubringen, das finde ich total gut. Und ist mir auch wichtig. Ich sehe mich nicht nur als ausführende Person. Ich konnte letztes Jahr auch mit zwei Kolleginnen eine feministische Lesereihe starten, bei der wir Texte von Schwarzen Feministinnen auf die Bühne bringen. Es ist super, wenn solche Formate neben klassischeren Stücken auch auf dem Spielplan stehen.

Würdest du gerne selbst mal ein Stück schreiben?

Schreiben ist nicht so mein Ding. Eher mal eines inszenieren. Aber oh Gott (lacht), vielleicht in einem anderen Leben.