Theater als Utopie über den Tod hinaus

von Fredi Lerch 1. September 2020

Ist es ein Roman? Oder sind es zwei Kurzromane? Egal: Guy Krnetas neues Buch «Die Perücke / D Perügge» liest sich, als sässe man mit ihm in der Beiz und er würde von Rike, Esther und all den andern erzählen, die man doch irgendwie kennt.

Guy Krnetas neuer Roman heisst «D Perügge». Erschienen ist das Buch allerdings unter dem Titel «Die Perücke». Wer es öffnet, findet eingelegt einen Zettel mit einem Link zum «Gratis-Download des berndeutschen Originaltextes». Zweisprachigkeit ist nicht immer, aber immer wieder ein Thema, wenn Krneta ein neues Buch herausgibt. Journal B hat im Interview mit ihm über diese zweisprachige Publikationsweise gesprochen.

Ein Leben für das Theater

Der neue Roman besteht aus 26 kurzen Kapiteln, in denen Krneta einen Ich-Erzähler aus seinem Leben berichten lässt. Zu Beginn hat der 22jährige eben sein Studium abgebrochen, sich an der Pforte des Stadttheaters gemeldet und dem Chefdramaturgen erklärt, dass er zum Theater will. Der kecke Auftritt hat Erfolg: Der junge Mann erhält eine Hospitanz.

So lernt er die 38jährige Dramaturgin Rike kennen, eine Kettenraucherin, die ganz für das Theater lebt: «Ussert Theater, han i dr Ydruck gha, git’s nüt i ihrem Läbe. Oder richtiger: Aus i ihrem Läbe het mit Theater z tüe gha.» Mit ihr entsteht bald eine intensive Arbeitsbeziehung. Erzählt wird von den zusammen erarbeiteten Projekten, den beglückend kreativen Phasen, den gemeinsamen Reisen zu Theatervisionierungen weit über die Landesgrenze hinaus, aber auch von schwierigen Zeiten, von Spannungen und Entfremdung – bis zu Rikes Tod, den sie fast verpasst, weil sie im Spitalbett mit dem Ich-Erzähler intensiv an der Umsetzung des Spitalalltags arbeitet  für ein neues, gemeinsames Stück.

Es ist sicher nicht ganz falsch, diesen Hauptstrang des Romans als Krnetas Hommage an die 2014 in Bern verstorbene Regisseurin, Künstlerin und politische Aktivistin Beatrix Bühler zu lesen.

Vom Dichter im Heim bis zur Frau auf der Brücke

Zwischen die Kapitel des Hauptstrangs schiebt Krneta solche, die zwei weiteren Textebenen angehören.

• Zum einen gibt es Porträts von Figuren, die im Roman keine weitere Funktion haben. Da ist zum Beispiel Marie-Luise Pfändler, die Schauspielerin, «di euteri Damen im Ensemble», von der er lernt, was Theater auch ist: «Dass mir bereit sy, für so viu Vrgänglechkeit üses Läbe z opfere.» Oder Tuan, der vietnamesische Schauspielschüler, der in einer Probe seine kindlichen Boat people-Erfahrungen in einer Art auf die Bühne bringt, dass der Ich-Erzähler schliesslich feststellt: «U we dä itz würd säge, är heig Päch gha, es gäb angeri, di heige Glück, di heigen überläbt, aber är ghör nid zu dene, är syg i däm Meer vrsoffe, i würd ihm’s gloube.» Oder Werner Bürki, der betagte Schriftsteller, der seit Jahren im Heim lebt und mehr sei «aus e bekannte Schriftschteuer: eine, wo d Usenandersetzig nid gschüücht het, e Mönsch mit Hautig.» Hat man Werner Bürki, geht einem beim Lesen durch den Kopf, bis vor einigen Jahren nicht in der Stadt antreffen können?

• Zum anderen wird über mehrere eingeschobene Kapitel die berührende Geschichte erzählt von einer jungen Frau, die Esther heisst und die Freundin des 22jährigen Theaterhospitanten ist. Die Beziehung ist schon zu Beginn am Ende, weil Esther nicht mehr leben will. Der Ich-Erzähler kämpft um sie, kann aber nicht verhindern, dass die Frau verschwindet. Später wird klar, dass sie – intensiv Tagebuch führend – nach Spanien trampt, das Tagebuch schliesslich in ein Couvert steckt, ihrem ehemaligen Freund in der Schweiz zuschickt und im südspanischen Ronda von einer fast hundert Meter hohe Brücke springt. Einer der letzten Tagebucheinträge lautet: «Vergebt mir. Ich habe es versucht. All die Wärme, das Gefühl, das Brauchbare in mir, nehmt es auf, lebt es weiter. Dann hat mein Leben einen Sinn gehabt.» Die Klammer zur Rike-Geschichte: Gerade der Verlust von Esther macht den Hospitanten zum Assistenten und Autor an die Seite von Rike: Auch in seinem Leben gibt es nun nichts mehr ausser Theater.

Eine Form, die noch keinen Namen hat

Aber Krnetas Buch ist kein Schlüsselroman: Zwar kann es einem immer wieder so vorkommen, als kennte man einzelne Ereignisse oder Figuren. Aber sie sind nicht so geschildert, als gehe es um ihre absichtsvolle Verschlüsselung in der Fiktion. Und Krnetas Buch ist auch keine Autofiktion, obschon man immer wieder Hinweise auf die öffentlich bekannten biografischen Stationen des Autors zu erkennen vermeint. Aber diesem Autor geht es nicht darum, sich selbst hinter Fiktion versteckt zu beschreiben als eine ganze Welt.

Schliesslich könnte man sich fragen: Ist «D Perügge» überhaupt ein Roman? Oder ist das Buch eine Mischform zwischen Roman und Kurzgeschichtenband? Sind die Rike- und die Esther-Episoden gar zwei verschachtelte Kurzromane – zusätzlich versetzt mit anschlusslosen Porträtkapiteln?

Beim Lesen des Buchs werden die Erwägungen zur Form des Textes allerdings schnell verdrängt durch die vielfältige Realitätshaltigkeit des Erzählten und durch die unverwechselbar authentisch klingende Oralität – durch den für Guy Krnetas Prosatexte so typischen Parlandoton – als würde er einem erzählend gegenübersitzen und man würde beim Zuhören im Stillen denken: Würde er als nächstes sagen, «är syg i däm Meer vrsoffe, i würd ihm’s gloube».