Aus der Tiefgarage eine Treppe hinauf: Schon geht man durch eine überdachte Gasse. Einige Schritte weiter links der kleine Dorfplatz, die grünstichige Patina auf den Betonmauern jetzt, im Regen, dunkel. Matthias Kallen, Werbefilm-Produzent, geht voran und sagt, hier in der Siedlung Thalmatt I, habe er Architektur zum ersten Mal wirklich erlebt: «Hier wird mir nicht Gewöhnungsbedürftiges vorgesetzt, hier gibt es Architektur, die funktioniert. Vom ersten Moment an habe ich mich wohlgefühlt.»
«Hier gibt es Architektur, die funktioniert.»
Matthias Kallen
Cheminéeholz neben jedem Hauseingang: Als ginge man am Rand von Kirchlindach durch Seitengassen einer toscanischen Altstadt: eng verschachtelt öffentlicher und privater Raum. Zum Eingang des Mettlenwaldwegs 34 führen aufwärts einige Treppenstufen. Ups: Hinter der Eingangstür überall nackter Beton. Darum also das Wort «Brutalismus», wenn von der Architektur des Atelier 5 die Rede ist: Sichtbeton heisst auf Französisch «béton brut». Kallens Wohnung liegt auf drei Stöcken, jede Etage ungefähr vier auf zehn Meter. Keine grossen Räume, aber klug gegliedert, in der Mitte der Treppenaufgang mit gläsern durchscheinenden Stufen; weit oben, durchs Oberlicht, der regengraue Himmel.
Künstliches Städtchen gegen Hüslipest
Gleich nebenan, am Mettlenwaldweg 33, wohnt Alfred Pini, unterdessen 82, damals einer der Atelier 5-Architekten, die die Thalmatt I geplant und gebaut haben. «1962 hatten wir die Halen-Siedlung abgeschlossen», beginnt er zu erzählen. «Die Frage war dann, wie es möglich wäre, bei gleich hoher Nutzung eine Überbauung zu realisieren, die die individuellen Wünsche, die Attitüden der einzelnen Bauherren berücksichtigen würde.» Die Vorteile des individuell gestalteten Wohneigentums ohne den Kulturlandverschleiss und die Zersiedelung durch die «Hüslipest» (Benedikt Loderer): Das sollte hier geboten werden.
1985 schrieb Ernst Hubeli über die Thalmatt I: «Die Moderne […] verbündete sich mit den bewährten städtebaulichen Traditionen. Das moderne künstliche Städtchen ist von der sie umrahmenden Natur deutlich abgegrenzt; es franst nicht formal-organisch ins Grüne aus.» Auf der Veranda im obersten Stock von Matthias Kallens Wohnung blickt man über die grün verwachsenen Betongevierte des Flachdächerlabyrinths hinüber in den Bremgartenwald als stünde man in einer Waldlichtung. «Wenn man will, kann man hier so gesellig leben wie mitten in der Stadt», sagt Kallen, «aber vermutlich könnte man hier auch vereinsamen».
Pini selber hat damals eine der 19 Wohneinheiten für sich selber gebaut. Klar habe es seither zwischenhinein Probleme gegeben bei der Selbstverwaltung durch die Hauseigentümer. Aber im Ganzen habe sich die Siedlungsform sehr gut bewährt. «Schade bloss», sagt er, «dass die Ausstrahlung von Halen und den Thalmatt-Siedlungen bescheiden blieb. Städtebaulich hätte man in den letzten vierzig Jahren vieles besser machen können.»
«Städtebaulich hätte man in den letzten vierzig Jahren vieles besser machen können.»
Alfredo Pini
Was er sich wünsche, wenn er höre, dass in Bern zurzeit am Stadtentwicklungskonzept 2015 gearbeitet werde? Pini zögert nur einen Moment, bevor er antwortet: «Einen anderen Umgang mit dem Eigentum!» Dabei rede er nicht von einer Revolution, sondern von einer Stadtentwicklung, bei der einerseits das private Eigentum respektiert werde, aber umgekehrt das Privateigentum respektiere, dass es Teil sei eines übergeordneten sozialen Plans.
Ausstellung «Kunst trifft Brutalismus»
Kallens Partnerin Jazmin Taco ist Kunststudentin in Zürich und räumt im Moment die unteren zwei Stöcke der Wohnung leer. Aus Anlass des 40jährigen Jubiläums der Siedlung Thalmatt I richtet sie hier für einige Tage ihren «Concrete Offspace» ein («concrete» heisst englisch Beton).
Die Ausstellung, die sie zusammen mit dem Galeristen Miler Ramirez (peripherie-arts, Boll) organisiert, führt unter dem Titel «Kunst trifft Brutalismus» junge Kunst zusammen mit der Architektur des Ateliers 5. Skulpturen und Malereien in gewöhnlich privaten Sichtbetonräumen: Das ist eine Einladung.