Selbstverständlich gibt es im «Sous le Pont» Pommes frites. Selbstverständlich? Das gibt es, abgesehen von ein paar eisernen politischen Verhaltensregeln, in der Reitschule nicht. Der Einführung der Pommes auf dem Menuplan gingen 2006 Grundsatzdiskussionen voraus. Zu reden gab unter anderem, dass die Pommes nicht selber hergestellt, sondern frittierfertig angeliefert werden. Zum ersten Mal angeboten wurden sie dann während der Fussball-WM. Dass diese in der Reitschule zelebriert wurde, auch das war damals eine Premiere.
Geschichten wie diese erzählt «Welcome to Hell». Keiner kann in Bern solche Geschichten erzählen wie Andreas Berger. Seit bald 30 Jahren ist der 1961 geborene Filmemacher dabei und hält die Kamera hin, wenn Bern bebt und brennt, wörtlich und bildlich. «Zafferlot» war 1986 der erste Film des damaligen «Bund»-Film- und Medienkritikers, «Berner Beben», eine Tränengasoper, wie er selber sagte, zeichnete 1990 wild und wütig die Geschichte der ersten zehn Jahre Bewegung auf.
Filme über das trotzige Hierbleiben
Berichte aus dem Innern der alternativen Szene waren auch die weiteren Filme, Porträtfilme, Stimmungsfilme über das trotzige Hierbleiben und Widerstand leisten («Ruhe und Unordnung», 1993), über den Alltag von sechs Autonomen und einem Polizisten («Zaffaraya 3.0», 2011), über das Anti-AKW-Camp vor dem BKW-Hauptsitz am Viktoriaplatz («77 Tage sind nicht genug», 2011).
Andreas Berger ist der Chronist der Berner Bewegung geworden. Viele der von ihm im Lauf der Jahre gedrehten Kurzfilme über die laufenden Ereignisse dienten auch der Szene selber als Beweis- und Archivmaterial, gut zehn von ihm aufgenommene Clips sind – nicht unter seinem Namen – auf Youtube zu finden: Embedded Journalism, auf der anderen Seite.
Alltag, auf die eine und die andere Art
Andreas Berger war nie nur Beobachter, er war immer selber Aktivist. Es gibt in seinen Filmen nicht den geringsten Zweifel, auf welcher Seite er steht, von welcher Seite aus er filmt. «Welcome to Hell» habe er für die Reitschule gemacht, sagt er, «und für mich». Er brauche die Kamera, «um den Wahnsinn der Welt in Schach zu halten».
In «Welcome to Hell» – der Titel bezieht sich auf den Willkommensgruss an die SVP 2007 bei ihrem Marsch durch Bern – spricht eine Reitschule-Aktivistin davon, wie sie ihre politischen Ideen in einem Filmzyklus umsetzen kann. Auch sie braucht das, um den Wahnsinn in Schach halten zu können. Das ist die gemeinsame Ebene, auf der sich Filmemacher und Reitschule-Betreiberinnen und -Betreiber treffen: Sie reden vom gleichen, und sie wissen beide, wovon sie reden.
Sogar die legendäre Vollversammlung hat nun minutenlang Eingang gefunden in den Schweizer Film.
Bernhard Giger
So nahe und unaufgeregt selbst in kritischen Situationen, so authentisch und kompetent wurde filmisch wohl noch nie Einblick gewährt in den Betrieb der Reitschule. Ein Aussenstehender hätte diesen Zugang kaum gefunden. Sogar die legendäre Vollversammlung – «ohne Basisdemokratie gäbe es die Reitschule gar nicht», sagt im Film eine Aktivistin der vielleicht dritten Generation, «sie ist das Herzstück» – sogar die VV hat nun minutenlang Eingang gefunden in den Schweizer Film.
Es ist nicht spektakulär, was der Film beschreibt: dass 650 Schlüssel für 92 Türen im Umlauf sind, oder mit wie viel Leidenschaft und Liebe im Kino die Bilder zum Laufen gebracht werden. Wie es in der Küche läuft, wie das «Megafon» gedruckt und der Drucker Vater wird, wie die Tauben zur Plage wurden und man nicht recht wusste, ob sie nun vergiftet, abgeschossen oder mit Stacheln vertrieben werden sollen.
Aber es ist genau das, was der Reitschule gern abgesprochen wird: Alltag, Arbeitsalltag und Lebensinhalt von rund 500 Personen, Normalität bis zu einem gewissen Punkt. Wie labil diese jedoch ist, zeigen die Passagen von Demonstrationen und Strassenkämpfen, die der Filmemacher auch diesmal in seine grosse Chronik des anderen Berns einbringt. Unschöne Szenen zum Teil, doch auch gesuchte Provokation. Welche Scheibe in welchem Moment die richtige sei, das könne manchmal durchaus die richtige Frage sein, wird im Film gesagt. Auch dies, aktiver politischer Widerstand, ist eben Teil des Alltags.
Langweilige Rhetorik, tägliche Realität
Zur Normalität gehört schon lange, dass die Reitschule städtischer Unruheherd ist. «Der Stadtrat wäre einiges ärmer, wenn es die Reitschule nicht mehr gäbe», sagt im Film die in diesem Frühling zurückgetretene JA-Stadträtin Lea Bill. Doch auch wenn Berger die Gefechte der Rechtsbürgerlichen im Stadtrat als kleine Comedy-Nummer montiert, spannender werden sie dadurch nicht. Sie langweilt, diese Putzt-sie-weg-Rhetorik, weil sie offensichtlich neben der Realität vorbeischiesst. Denn dass Stadt und Stadtparlament die Reitschule mehr bedrängen und beschäftigen, als das die Betreiberinnen und Betreiber gegenüber der Öffentlichkeit manchmal eingestehen wollen, zeigt der Film in den Reaktionen auf die Verzögerung bei der Vertragserneuerung mit der Stadt. Da ist die innere Unruhe zu spüren über den vertragslosen Zustand, auf die Dauer schade das dem Betrieb, mahnt jemand. Auf das kleine Stück Verbindlichkeit will man schon setzen können.
Berner Nachtleben, das die meisten, die davon reden, nur vom Hörensagen kennen.
Bernhard Giger
In die Realität der unmittelbaren Umgebung der Reitschule führt der Film in einer bedrückenden, nächtlichen Sequenz, in der er eine junge Aktivistin auf ihrem Kontrollgang begleitet. Solche Rundgänge gehören zu ihrem Job. Elend und Gewalt, Dealer und Polizei, Berner Nachtleben, das die meisten, die davon reden, nur vom Hörensagen kennen. Die atmosphärisch dichten Nachtbilder lenken den Blick – unsentimental, aber mit dem sicheren Auge für die soziale Sprengkraft wie die Filme des britischen Free Cinema – auf den eigentlichen Unruheherd der Schützenmatte.
Mit dem Kulturzentrum Reitschule im engeren Sinn hat das, was sich dort abspielt, wenig zu tun, mit dessen Funktion im sozialen Netz des städtischen Lebens sehr viel. Wie dringend nötig eine Neukonzeption für diesen städtischen Raum ist: Die paar Minuten Film zeigen es eindringlich.
Einfach nicht alles klären
Die Zeiten haben sich geändert. Das Bern um die Reitschule herum, das von den Betreiberinnen und Betreibern oft etwas forciert als Feindesland empfundene Rest-Bern, ist nicht mehr die gespaltene Stadt der 80er- und 90er-Jahre. Bern bebt nicht mehr. In den 80er-Jahren hat die Polizei Stacheldraht um die Reitschule gespannt, heute gibt sie in einem Film über die Reitschule breitwillig Auskunft. Selbst die charmant erzählte Geschichte von Kuno Lauener über die Eroberung der Reitschule beim Kulturstreik 1987 klingt im Rückblick fast ein wenig versöhnlich.
Wie sich die Reitschule entwickeln, wie sie sich behaupten wird, sozial, politisch, wie sie sich als Kulturzentrum positionieren wird, innerhalb der Kulturszene, aber auch vor dem Hintergrund anderer Nutzergewohnheiten – «es gibt eine Wochenreitschule und eine Wochenendreitschule», sagt Andreas Berger –, davon handelt der Film nur ansatzweise. Das ist auch nicht sein Anspruch, «Welcome to Hell» ist ein Film zu 25 Jahre Reitschule.
Den gemeinsamen Nenner suchen
Und doch steht am Schluss die Zukunftsfrage im Raum. Es ist davon die Rede, dass man das Publikum dafür sensibilisieren müsse, «was die Reitschule überhaupt ist», und dass man wieder verstärkt nach einem gemeinsamen Nenner suchen wolle. Was man halt so sagt, wenn man nicht recht weiter weiss.
Und dann fällt ein Satz, der hängen bleibt. Eine Aktivistin und Theaterschaffende sagt ihn, eine Frau, die ein paar Jahre in der Reitschule daheim war, und sich am Schluss des Films verabschiedet, weil sie von Bern wegzieht: «Wenn alles klar ist, wenn die Reitschule klar definiert werden kann, ist sie verloren.» Schwarze Schafe, das zeichnet sie aus und macht den Umgang mit ihnen gelegentlich kompliziert, reihen sich schlecht ein.