Die erste wiederauferstandene Fasnacht war im Jahre 1982, vor über 30 Jahren. Was war damals die Inspiration oder das Vorbild für die Stadtberner Fasnacht?
Martin Vatter:
Damals ging es schon vor allem darum, in die graue Beamtenstadt Bern etwas mehr Fantasie und Farbe zu bringen. Aber auch, im Hinblick auf die Kinder, die Möglichkeit bieten, sich selber kreativ zu betätigen und ihre Fantasie, die ja meist noch farbiger und schöner ist als bei uns Älteren, zu pflegen.
Wenn du zurückdenkst an die Zeit, in der ihr angefangen habt und es mit der heutigen Fasnacht vergleichst. Hattest du jemals die Hoffnung, dass die Stadtberner Fasnacht ein so grosser und so erfolgreicher Anlass werden würde?
Gehofft hatten wir das natürlich schon. Ich habe diese Fasnacht einen alten Freund getroffen. Wir haben zusammen über die ganz alten Zeiten sinniert, und er meinte «weisst du noch, als ich damals sagte, dass es in Bern niemals gehen würde und du nur meintest ‹mou es geit›».
Du hast 2009 gesagt, die Probleme der Berner Fasnacht seien die Überalterung und Vandalismus. Wie ist das 2013 gewesen?
Durch das Wachsen des Ganzen haben wir, wie jeder Anlass in einer grösseren Stadt, an dem Tausende Leute mitmachen, auch dieselben Probleme, mit denen alle Veranstalter zu kämpfen haben. Es sind Vandalismusprobleme, Alkoholismusprobleme, man hat ab und zu Tätlichkeiten – das ist eine Funktion der Grösse. Solche Dinge sind ganz am Anfang praktisch nicht vorgekommen.
«Auch das Urinieren von Männern ist ein leidiges Thema.»
Marin Vatter, Mutzopotamier und Fasnächtler erster Stunde
Wir haben zum Beispiel seit Jahren ein intensiv geführtes Alkoholpräventionsprogramm, das darauf achtet, dass Standbetreibende nichts an Minderjährige ausschenken. Auch das Urinieren von Männern ist gerade im Hinblick auf die Akzeptanz durch die Bevölkerung der unteren Altstadt ein leidiges Thema. Dort ist unser Hauptraum, und dort stinkt es manchmal gewaltig. Und es ist klar von wem.
Und die Überalterung? Habt ihr Mühe mit dem Nachwuchs?
Wir sind ein Verein, der Verein Bärner Fasnacht ist der Träger und Motor der Fasnacht. Wir haben immer gute Leute gefunden, die sich ins Zeug gelegt hatten, damit die ganze Arbeit getan ist. Das ist immer noch bis zu einem gewissen Masse so, aber die Bereitschaft dazu nimmt ganz eindeutig ab. Und wahrscheinlich hat unsere Generation daran Schuld, dass die Jungen heute so sind. Ich meine nicht nur die elterliche Erziehung, es sind auch viele öffentlich-wirksame Faktoren da: Konsumzwang, Jugend als Kaufkraft und so weiter.
Du hast auch schon gesagt, die Fasnacht habe kulturelle, pädagogische und politische Funktionen. Welche genau?
Wir haben von Anfang an gefunden, dass die Fasnacht eine wichtige pädagogische Funktion haben könnte, nicht nur bei den Kindern sondern auch bei den Erwachsenen. Und deshalb kommt es nicht von ungefähr, dass wir bei der allerersten Pressekonferenz nicht nur aus dem Historischen oder nur vom Verein sondern – und das war mein Part – auch vom psychologisch-pädagogischen Aspekt heraus argumentierten.
Was ist die pädagogische Chance der Fasnacht?
Beim ersten Umzug war zum Beispiel der Chinderchübu ganz prominent dabei. Die Kinder- und Jugendarbeit war damals im Kornhaus angesiedelt und sollte an eine weniger attraktive Lage verlegt werden. Kinder sind mit einem Modell des Kornhauses durch den Fasnachtsumzug gegangen und haben sich für ein politisches Thema engagiert. Und das ist charakteristisch für die Ideale der Fasnacht, dass man Kinder und ihre Anliegen wahrnehmen und ernst nehmen sollte.
Und welches sind die psychologischen Aspekte?
Alle Menschen stehen unter vielen Zwängen und spüren von aussen aufgesetzte Grenzen. In der Fasnacht hat man die Möglichkeit, in einer Gruppe eine Position einzunehmen und etwas zu bewerkstelligen, was man vielleicht sonst im anderen Beruf nicht kann. Und dann kann man sich den öffentlichen Raum, in dem man sich sonst immer nach allen Regeln benehmen soll, mal nehmen und sich dort ohne Regeln bewegen.
Ähnliche Bestrebungen gibt es ja in der Tanz dich frei-Bewegung. Was hältst du davon?
Ich habe es zu wenig verfolgt, aber ich denke, das ist eine sehr gute Idee. Denn es ist ein Votum gegen Gewalt aber doch für Befreiung. In unserer Gugge war es immer ein Leitgedanke, solche Musik zu machen, zu der man im öffentlichen Raum gut tanzen kann. In Luzern kann man wegen engen Platzverhältnissen bestenfalls hopsen, aber hier bei uns kann man tanzen! Es ist wunderschön, zu sehen, wie die Leute tanzen – sie tanzen sich frei, auch an der Fasnacht.
Welche politischen Chancen bietet die Fasnacht?
Die Fasnacht bietet die Möglichkeit der Umkehrung. Schon bei der alten Berner Fasnacht war – wie bei allen Fasnachtstraditionen – die Umkehrung ein Grundgedanke: Der König wird Bettler, und der Bettler wird König.
«Voraussetzung ist, dass man mit der eigenen Identität spielen kann.»
Marin Vatter, Mutzopotamier und Fasnächtler erster Stunde
Und es ist das Schöne bei den Kostümen und den Masken, dass man wählen darf, was man sein möchte. Die Voraussetzung dafür ist, dass man mit der eigenen Identität spielen kann. Das können nicht alle, und die, die es nicht können, sind keine Fasnächtler. Aber der Berner spielt sehr gerne Theater, es gibt viele Theaterliebhaber, und deshalb waren wir davon überzeugt, dass er darauf abfahren wird, eine Rolle zu spielen und dabei vielleicht auch Mal den Oberen seine Meinung zu sagen oder zu zeigen.
Was ist das Potential von Schnitzelbänk oder politischem Witz?
Es ist ja bekannt aus ganz schwierigen Phasen in Mitteleuropa, ich denke an die braune Phase in Deutschland, dass gerade dann das Cabaret und der Witz eine absolut wichtige und karthatische Funktion hatten. Dass man also scharf und klar sagen konnte, womit man nicht einverstanden war, ohne direkt in den Kerker zu wandern. Indem wir eine grosse Figur an einen Ort platzierten, von dem wir dachten, der müsse von der Stadt gesehen werden, gaben wir ein Statement ab. Wir dekorierten zum Beispiel den umstrittenen Oppenheim-Brunnen mit einem drei Meter grossen Bisel-Bär. Später stellten wir eine zehn Meter hohe, kopfschüttelnde Christopherusfigur auf den Bahnhofsplatz, der jahrzehntelang eine verkehrstechnische Kalamität war.
«Das sind die Anekdoten einer wilden Zeit.»
Marin Vatter, Mutzopotamier und Fasnächtler erster Stunde
Als die Zaffaraya entstand, stellten wir auf den damals leeren Sockel des Gerechtigkeitsbrunnens eine doppelgesichtige Janusfigur mit einem vermummten Protestierer auf der einen und einem Polizeigrenadier auf der anderen Seite. Das war natürlich dicke Post. Der Polizeidirektor gab den Befehl, die Figur sofort weg zu räumen. Ich habe ihn dann angerufen und die Botschaft erklärt: Die beiden Seiten müssen zusammenkommen, zusammen reden statt sich zu bekämpfen. Das Strasseninspektorat hat die Figur, welche die Polizei vorher weggeräumt hatte, dann wieder auf den Sockel gestellt. Das sind die Anekdoten einer wilden Zeit.
Welche Wünsche hast du für die Berner Fasnacht?
Dass sie vorankommt im Fertigwerden mit den Problemen der Grösse. Und dann hoffe ich, dass es vielen gelingt, diese Vorbereitungszeit als etwas Positives zu gestalten und es dann geniessen können, mit den schönen Gewändern an die Fasnacht zu gehen. Ich wünsche mir auch, dass es weiterhin solche gibt, die sich reinhängen in die Fasnachtsorganisation, was mit einem unheimlich grossen Arbeitsaufkommen verbunden ist, dass die Kooperation mit den Institutionen wie Polizei oder Bernmobil weiterhin postitiv läuft. Und am Ende auch, dass wir unter den Guggen und Gruppen ein kameradschaftliches Verhältnis haben. Ein bisschen Neid ist halt immer dabei – wir sind alles nur Menschen.
Audio-Bericht von Giulia Meier von Subkutan, der Kultursendung auf RaBe.