Symphonie auf Twitter, Punk im Konzertsaal

von Jessica Allemann 28. März 2013

Stellen Sie sich vor, sie gehen Lebensmittel einkaufen und werden mit Schönbergs Zwölftonmusik berieselt. Sie sitzen im Wartezimmer Ihrer Zahnärztin, und im Hintergrund läuft Doom Metal von Thergothon.

Oder Sie treffen sich in einem Café und dabei auf Xenakis’ Stochastische Musik. Wenn Ihnen das passiert, könnten Sie Teil eines gross angelegten Musikvermittlungsprojekts geworden sein. Dazu aber später mehr.

Barbara Balba Weber ist Dozentin für Musikvermittlung an der Hochschule der Künste Bern und weiss, dass es Musikstudentinnen und -studenten gibt, die mehr wollen, als nur auf der Bühne zu stehen und ihr Instrument zu spielen wie andere Berufsmusikerinnen und -musiker. «Sie wollen mit ihrer Musik einen Schritt hinaus in die Gesellschaft machen. Dabei machen sie sich auch oft auch mehr Gedanken darüber, was mit ihrer Musik in eben dieser Gesellschaft passiert und umgekehrt.» Einer ihrer Studenten und Tönstör-Mitarbeiter ist der Gitarrist Rasmus Nissen.

Das Vermitteln von Musik ist für ihn ein Weg zurück zu einem intuitiveren Umgang mit Musik. Als ausgebildeter Musiker verfalle er beim Musikhören schnell ins Analysieren. «Die berufliche Auseinandersetzung mit Musik kann einiges kaputt machen.» Durch die Arbeit mit Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen möchte er «die Ausbildung ein Stück weit wieder abstreifen» und durch die fundamentalere Auseinandersetzung gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen, später vielleicht auch mit Erwachsenen, den Weg ins pure Hören und Empfinden von Musik wieder finden.

Via Twitter Menschen für das Orchester sensibilisieren

Was einleuchtend klingt, ist eine grosse Herausforderung. Musikvermittlerinnen und Musikvermittler müssen Musikstile an die Menschen bringen, die alles andere als marktfähige Selbstläufer sind. Neue Methoden und Kanäle wie Social-Media-Plattformen bekommen hier immer mehr Gewicht. Die Menschen dort abholen, wo sie sich sowieso aufhalten, dachten sich wohl auch die Köpfe hinter dem niederländischen Metropole Orkest als sie das Projekt Tweetphony auf die Beine stellten. Im Vorfeld eines Live-Konzerts konnte jeder und jede mittels einer App auf Twitter eine 140 Zeichen lange Melodie tweeten.

«Social-Media-Kanäle sind auch für Musikver- mittlungsprojekte attraktiv»

Rasmus Nissen, Musiker und Musikvermittler

Die Sequenz wurde anschliessend für das Orchester arrangiert und am Konzertabend von diesem aufgeführt. Jeder gespielte Tweet beziehungsweise seine orchestrale Interpretation wurde als Video auf dem YouTube-Kanal des Orchesters veröffentlicht. Grund für diese Aktion waren bevorstehende Budgetkürzungen, auf die das Orchester medienwirksam hinweisen wollte. Und konnte – über die Landesgrenzen hinaus. «Auf Social-Media-Kanälen kann man schnell viele Menschen erreichen, was sie auch für Musikvermittlungsprojekte attraktiv macht», weiss Nissen, der sich auch eine Berner Tweetphony-Aktion gut vorstellen könnte.

Wieso vermitteln, was nicht interessiert?

Man kann sich die Frage stellen, wieso zeitgenössische Klassik oder komplexe Jazzkompositionen überhaupt vermittelt werden möchten. Wieso sollen sich Menschen mit Musikstilen auseinandersetzen, für die sie sich vorderhand gar nicht interessieren? Kann die Schülerin nicht bei Justin Bieber bleiben, der Jugendliche bei Sido? Wieso sollte Frau Meier von Zwölftonmusik erfahren und Herr Müller Bachkantaten kennenlernen? «Es ist gut, wenn es möglichst verschiedene Arten von Musik gibt, wie es auch gut ist, wenn es überall sonst eine grosse Vielfalt gibt – gerade in einer immer globalisierteren Gesellschaft mit einer recht uniform gewordenen Musikwelt», sagt Weber. «Jede Musikform hat ihre Daseinsberechtigung. So braucht es zum Beispiel experimentelle Musik, welche die Tradition hinterfragt und neue Wege sucht, um diese Praxis des Hinterfragens in einer Gesellschaft zu fördern.» Die Musik wird zum Übungsmechanismus und zum Exempel für Handlungsoptionen. «Musikvermittlung bedeutet letztlich Alternativen anbieten.» Und Schwellenängste abbauen. Wer als Schülerin oder Schüler regelmässig klassische Konzerte besucht hat, findet auch als erwachsene Person den Weg in den Konzertsaal. Wer ein Orchester auf Twitter verfolgen kann ebenso. «Es müssten eigentlich alle massiv daran interessiert sein, moderne Musikvermittlung auch in der Schweiz zu etablieren», folgert Weber.

«Die Grenzen sind noch nicht abgesteckt»

Projekte, in denen Schulklassen und Symphonieorchester zusammenarbeiten oder etablierte Musikerinnen und Musikschüler zusammenspannen, sind im Kommen. «Die Grenzen der Musikvermittlung sind aber noch lange nicht abgesteckt worden», ist Nissen sicher, «da ist noch vieles möglich.» Auch beim Publikum von Musikvermittlungsangeboten liege noch einiges drin: «Ich kann mir vorstellen auch mit älteren Menschen, mit Angestellten einer Firma oder mit Menschen im Gefängnis zusammen zu arbeiten oder mit Menschen, die eine andere Sprache sprechen und man sich ausschliesslich über Körpersprache und Musik verständigen kann.»

«Es müssten eigentlich alle massiv an Musikvermittlung interessiert sein.»

Barbara Balba Weber, Musikerin und Dozentin für Musikvermittlung

Damit grosse Musikvermittlungsaktionen auf Verständnis und auf Trägerschaften – künstlerischer wie finanzieller Natur – stossen, braucht es ein Umdenken. «Musikvermittlung hat mehr mit künstlerischem Experimentieren zu tun als mit Pädagogik», findet Weber. Die Schweiz hinke im Bereich noch hinter anderen Ländern nach. Grund dafür ist vor allem die Grösse: «Die Schweiz ist klein, die Institutionen sind an einer Hand abzählbar und oft nicht so risikobereit, grössere und innovative Projekte zu fördern.» Ideen für solche Projekte wären bei den angehenden Musikvermittlerinnen und Musikvermittlern jedenfalls zur Genüge vorhanden, weiss die Dozentin. Sie selber hegt ebenfalls den Wunsch für ein expermentelles Vermittlungsprojekt im grossen Stil: Ein Traum von ihr wäre es, in einem Projekt, an dem zahlreiche Institutionen beteiligt wären, ein grosses «Durcheinander» zu orchestrieren: «Falsche Musik an falschen Orten» zu spielen. Sobald das Symphonieorchester anhebt, kommt Punk raus, oder im Hirschen in einem kleinen Dorf im Berner Oberland kommt Musik von Ferneyhough aus der getäferten Decke. «Solche spielerisch-untergrabende Aktionen können zu spannenden Reaktionen und weiterführenden Auseinandersetzungen über das musikalisch Andere führen.»

Bis es soweit ist, können Sie unvermittelte Begegnungen mit speziellen Musikstilen aber weiterhin auf den Musikgeschmack des Lebensmittelgeschäftsinhabers, Ihrer Zahnärztin oder des Café-Personals zurückführen.