Stell dir vor, es ist Wahl und ich geh hin

von Anne-Careen Stoltze 22. November 2012

Sie lächeln mich von den Postkarten an. Der unrasierte Stapi, der stachelige Erich Hess und die RGM-Frauen. Sie wollen, dass ich wähle. Vielleicht nicht genau ich, denn ich darf nicht wählen. Aber diesmal ist es anders. Ein Selbstversuch.

Meine Freundin Sandra* ist Schweizerin. Ihre Mutter ist Deutsche. Vielleicht ist Sandra deshalb nicht ganz neutral, was die Deutschen angeht. Vielleicht sind wir auch deshalb Freundinnen. Sprachlich hat sie mich schon lange unter ihre Fittiche genommen – sie ist Pädagogin und mag meine Aussprache, auch wenn ich es mal auf Berndeutsch versuche. Das mit dem Berndeutschen lässt sich nach sieben Jahren Hierlebens nicht mehr vermeiden. Gleich geht es mir mit der Politik. Ich weiss längst besser über die hiesigen Debatten Bescheid als über die heimischen Diskussionen. Ist doch klar, dass mich die aktuellen Themen in der Stadt, in der ich lebe, persönlich berühren. Dazu kommt, dass ich die städtische Politik von Berufs wegen beobachte.

Für den Ernstfall fehlt der rote Pass

Ich bedaure meistens, dass ich auf Gemeindeebene nicht abstimmen darf. Smartvote ist dann immerhin eine Möglichkeit. Verwirrend wird es jedoch bei den Fragen zur Migrationspolitik und zur EU. Da verheddern sich deutsche Herkunft und helvetische Anpassung. Für den Ernstfall fehlt mir etwas Entscheidendes: der rote Pass. Diesmal ist es anders: Sandra und ich bilden ein Wahltandem.

«Du kennst dich besser aus als ich», sagt Sandra und schwenkt das dicke Wahlkuvert. Sie kann wählen, weiss aber nicht genau, wen, ich darf nicht wählen, hätte aber schon ein paar Ideen. Also verabreden wir uns zum Wählen am Küchentisch. Trotz Pizza und Bier wird es kein entspannter Freitagabend. Erst einmal wälzen wir das umfangreiche Material und sortieren es in drei Häufchen: «Never ever», «vielleicht» und «wählen». Smartvote sagt, dass wir uns politisch ähneln – sonst könnten wir die ganze Aktion nicht machen.

Der «Vielleicht»-Stapel ist am grössten

Das meiste Papier liegt auf dem «Vielleicht»-Stapel. Das sichten wir zusammen und das läuft in etwa so ab: «Kennst du die?», fragt mich Sandra und deutet beispielsweise auf den GFL-Prospekt mit den grünen Ohren oder auf das grafisch anspruchsvolle Faltwerk der PdA. Und dann sage ich, was ich weiss, ob ich einen Kandidierenden kenne und ob der Partei aus meiner Sicht etwas Gutes gelungen ist oder ob sie einen Bock geschossen hat. Am Ende wechseln vier Flyer von «vielleicht» zu «wählen». Es ist überschaubar.

Frauen zuerst auf die Liste

Zuerst will Sandra eine leere Liste füllen, doch bald findet sie es praktischer, eine fertige Liste zu verändern. Knapp eine Stunde streichen, kumulieren und panaschieren wir, dass es eine Freude ist. Wir, will heissen: Sandra schreibt, ich diktiere ihr die Kandidatennummern und die Namen. Das Vorgehen ist relativ klar einerseits: Frauen haben Vorrang und Bisherige. Andererseits manchmal inkonsequent und willkürlich, denn bestimmte Berufsgruppen haben es schwer, Beamtinnen und Kommunikationsberater zum Beispiel. Auch ganz Junge mit Jahrgang 1991. «Die sollen zuerst Erfahrungen machen», finde ich. Sandra entgegnet, vielleicht brächten sie mehr Idealismus und nicht ganz so langfädige Ratssitzungen.

Wir fühlen uns, als würden wir etwas Verbotenes machen. «Wieso eigentlich? Wir machen hier Integration», befindet meine Wahlleiterin und fragt nach meiner letzten Wahl. Die liegt schon drei Jahre zurück. Bei der Bundestagswahl konnte ich per Briefwahl gleichzeitig den Bürgermeister meiner Heimatstadt wählen. Das ist ein komplett anderes Verfahren. Es gibt nur einen Wahlzettel, auf dem die Kandidierenden und die Listen stehen. Darauf darf ich lediglich zwei Kreuzchen machen. Würde er so wie Sandras am Ende aussehen, gestrichen, drübergeschrieben und mit doppelten Namen – die Wahl wäre ungültig.

Zu früh für eine Stadtpräsidentin

Nach dieser Arbeit geht es an die Exekutive. Auch da haben Frauen Vorrang. Auf eine Stadtpräsidentin können wir uns gleich einigen, aber dafür ist in Bern wohl noch nicht die richtige Zeit gekommen. Wohl aber zum Prosten, denn es ist fast geschafft.

Zum Schluss geht es ans Produktegruppenbudget und das Tierseuchengesetz. Zwei sperrige Themen, die zu später Stunde wenig verlocken. Die dazugehörigen Büchlein lassen uns eher ratlos zurück. Also rasch im Internet nachlesen. Trotz nachvollziehbarer Pros und Kons entscheidet Sandra einfach nach dem Bauch und mit dem Herz einer Tierhalterin. Und ja, jetzt bin auch ich abstimmungsmüde.

*Name geändert