Staunen aus 72 Metern über Boden

von Christoph Reichenau 9. Dezember 2021

Fotografien von Dominique Uldry sowie Texte von Paula Sansano und Meret Arnold machen das Werkbuch 2021 des Kantons Bern aus. Es verleitet zum staunenden, suchenden Betrachten, macht neugierig auf Ostermundigen West und lässt einiges offen. Ein Lob auf das Unfertige.

1 Minute und 40 Sekunden mit dem Warenlift. Im 19. Stockwerk kommt man an. Ausstieg auf das Dach. Jetzt steht man 72 Meter über Boden und hat freie Sicht rundum. Wo? Im ehemaligen PTT-Gebäude an der Ostermundigenstrasse 93 an der östlichen Stadtgrenze von Bern, der westlichen Gemeindegrenze von Ostermundigen. Was sieht man von da oben? Was denkt man hier oben? Was träumt man, ersinnt man, assoziiert man auf dieser Aussichtskanzel? Dem geht das soeben erschienene Buch «72 Meter über Bern» nach.

Das Buch hat zwei Pole, einen bildhaften und einen texthaltigen. Der Bildpol besteht aus einer Fülle von Fotografien, die der Berner Dominique Uldry vom Dach aus in den vier Jahreszeiten und in alle Himmelsrichtungen gemacht hat, bei Tag und in der Nacht. Sie zeigen ein Puzzle der vielgestaltigen Quartiere: Vom nahen Hang mit Stadtvillen bis hinein in die ferne, tiefliegende Altstadt mit Münster und Bundeshaus, die wie Miniaturen wirken. Die Aufnahmen sind gestochen scharf – man erkennt einzelne Grabsteine und Anschriften von Läden – und haben zugleich eine magische Atmosphäre.

Den Textpol des Buchs bilden Beschreibungen und kleine Essays der Architektin Paula Sansano und der Kunsthistorikerin Meret Arnold, die seit 2016 den Offspace für Architektur an der Münstergasse 4  in Bern betreiben, der nach dem unbehauenen Stein und der Zunft zum Affen «Affspace» heisst. Die vier Kapitel tragen poetische Titel wie «Bern Ostbahnhof» oder «Höhenfeuer» und verbinden erfreulich klare Sprache mit Überlegungen, die weit ins Utopische hineingleiten. Hinzu kommen unter anderem  die «Karten zum Rand», die Marcel Jäggi, Fiona Kuang und Ferdinand Pappenheim zusammengetragen haben, um den Grenzverlauf und die geografische Ineinanderverschachtelung von Bern und Ostermundigen zu veranschaulichen.

Interessant, was ausgelassen ist. Das PTT-Gebäude dient lediglich als Podest des Fotografen. Dabei ist seine Geschichte als Zeugnis der jüngsten technischen Entwicklung, als Überbleibsel der Reorganisation der ehemaligen Regiebetriebe des Bundes allein eine Erzählung wert. Zu dieser gehört die Erwähnung der riesigen ungenutzten Lagerräume, einer Kathedrale unter Boden, für die noch immer eine Nutzung gesucht wird und in welcher der Depotbedarf der Berner Museen eine Lösung fände. Allerdings: Seit 2017 hat sich der Affspace verschiedentlich mit dem turmartigen Haus befasst mit Diskussionen, einer Ausstellung, einem Spaziergang; im Buch scheint davon leider nichts auf.

Ausgespart wird ebenso das neben dem PTT-Gebäude auf dem «Bären»-Areal am Rand von Ostermundigen bald fertiggestellte Hochhaus. Der höhere Bau erlöst den bisherigen Solitär aus seiner Einsamkeit. Zwei für hiesige Verhältnisse sehr hohe Häuser setzen künftig auf sehr unterschiedliche Weise einen markanten Akzent im gewerblichen Gewimmel.

Die Publikation ist «Werk-Buch/Oeuvre d’artiste 2021» des Kantons Bern, der auch als Herausgeber firmiert. Am 23. Dezember wird es im Rahmen der Cantonale-Vernissage in der Kunsthalle vorgestellt.

Am besten überlässt man sich Dominique Uldrys Fotografien und lässt sich von Paula Sansanos und Meret Arnolds Einlassungen und Abschweifungen zu Gedankenspaziergängen verführen. In Ruhe.  Etwa zwischen den Jahren, in einer langsamen Woche. Dann ist Zeit dafür, aus 72 Metern über Boden zu staunen.

Das Buch ist in der Buchhandlung zum Zytglogge an der Hotelgasse Bern erhältlich.