Stand By Me

von Thomas Jacobi 19. März 2018

Ein gescheiterter Feinkostladenbesitzer trifft auf einen gescheiterten Geflügelzüchter, dessen gesamter Geflügelbestand von Tauben gefressen wurde. Zwischen den Schicksalsgenossen entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. «Der letzte grosse Traum» wurde vom 14.-17. März im Tojo Theater aufgeführt.

In vier auf vier Metern Grundfläche lässt es sich gut untergehen und wieder auferstehen. Was es dazu braucht ist die Liebe eines anderen Mannes. Zwischen Sumpf und Einkaufszentrum führt Stanley Paczinsky regelmässig Inventar der heimlich leer gegessenen Dosen und Packungen auf den Regalen seines von jeglicher Kundschaft verlassenen Feinkostladens. Da ist jemand am Ende angekommen. Irgendwo in Amerika.

Nichts davon sehen wir auf der Bühne. Stattdessen spielt Stanley Paczinsky im grellen Bühnenlicht auf einem Harmonium mitten auf dem quadratischen Podest seines Lebens, als ein zweiter Gescheiterter, zuerst zögerlich, zu ihm tritt. Auch Matthew Wringley hat das Ende erreicht, denn Paczinskys Feinkostladen ist der letzte mögliche Abnehmer seiner massiven Ladung an Delikatessen-Geflügelpastete. Und seine Welt ist gleichfalls nur noch eine Fassade. Was er real anzubieten hat, ist Taubenleberpastete, verfeinert mit einer Grosshändler-Würzmischung. Von jenen Tauben, die seinen Geflügelhof überfallen und ruiniert haben.

Nichts von alledem irritiert die augenblickliche Tiefe an Gefühl zwischen diesen beiden Lost Souls. Weder die schamvolle Trostlosigkeit ihrer Situation, noch ihre eigene Unfähigkeit, zupackend ihrer jeweiligen Katastrophe Herr zu werden. In einem tragikomischen Reigen intimster Gesten von körperlicher Fürsorge, Wärme und Zärtlichkeit, begleitet von spröden, formalen Sätzen gegenseitiger Wertschätzung, taumeln sie fortan in das Glück der gemeinsamen Rettung. Zwei Amerikaner, in höflicher, betulicher Schweizer Mundart und entfesselt in männlicher Liebe.

Im jetzt gemeinsamen Doppelbett hush-husht Paczinsky seinen Wringley mit elektrischer Gitarre in den Schlummer, überschüttet ihn später mit seiner ausufernden Sammlung an peinlichen Überbleibseln, massiert seinen nackten Oberkörper mit Innbrunst und offeriert zu seiner Aufheiterung schrullige Verkleidungen. Wringley seinerseits bietet Paczinsky sein allerletztes Geld zur Aufbewahrung an und dann zur Rettung seines Geschäftes. Zwei, die den Boden unter den Füssen verloren und doch möglicherweise das Wichtigste zu ihrer Errettung gefunden haben: Ihre gegenseitige Zuneigung.

Mit dem Leben kommen sie kaum zurecht. Auch nicht zu zweit. In lachhaften Erklärungen und Zukunftsverplanungen buchstabieren sie sich gegenseitig absurde Existenzentwürfe vor, bis zum Erfinden neuer Möglichkeiten nur noch ein atemloses Spiel von Wortergänzungen übrig bleibt. Den Sumpf trocken legen, vom Einkaufszentrum eine Strasse herüberbauen und ein Krankenhaus errichten. Musicals zusammen schreiben und damit Millionär werden. In ihrem Kopf, da steht ihnen die ganze Welt offen.

Und doch sollte es Paczinsky besser wissen. Ein Modell von Napoleon, wie er scheitert in der Schlacht von Waterloo, aus allen Richtungen umringt von den feindlichen Kampfdivisionen mehrerer Jahrhunderte, hat er bereits gebaut. Es ist eine Seelenlandschaft des berühmten Mannes im Moment seines persönlichen Niedergangs, verkündet er. Doch dieses Tableau der Selbsteinsicht, gebaut auf vier mal vier Metern Grundriss, ist nur eine fertiggestellte Fantasie, wie er eingesteht. Wie die Kargheit der quadratischen Bühne auf der Bühne, die nur von den Requisiten und der Präsenz der Schauspieler gefüllt und beseelt wird, so existieren die Fantasien des Untergangs und des Wiederaufstiegs nur in den Projektionen der ZuschauerInnen und der Protagonisten.

Dahin gehört auch Paczinskys Obsession mit der nebelhaften Figur einer verschollenen Dorothy Cohen, von der einst nur das Requisit ihrer Schirmmütze gefunden wurde. Am Ende treten Wringley und Paczinsky hinaus in den stillen Sumpf und erschaffen sich gemeinsam eine tänzerische, liebkosende Huldigung dieser Mitreisenden ins Land der Verlorenen, der Schatten, umspielt von tosender Musik. Die amerikanische Flagge, mit ihrer Ikone eingefügt, schwebt an ihren Fingerspitzen durch die Nebel, bis sie sich gegenseitig wieder und wieder in ihr umschlingen, auf dem Kopf schwarze Tophats, die aus dem Nichts von der Decke herabgeglitten waren wie die Flagge selbst.

Und dann passiert es. In ihrem taumelnden, zärtlichen Tanz umschlingen sie gegenseitig den Hals des Anderen enger und enger, bis sie schier bewusstlos zu Boden gleiten mit glasigem Blick. Haben sie die Farce ihres eigenen Lebens womöglich verstanden? Ermächtigen sie sich schliesslich doch noch tatkräftig ihres eigenen Untergangs?

Am Ende lassen sie nach, Pasczinsky verkündet, man solle weitermachen jetzt, wo man sich gefunden habe, und der Ausweg ist ungewiss. Die bemerkenswerte Liebe dieser beiden Männer, die körperlich so einnehmend ist und doch unerotisch bleibt, rettet die Protagonisten vor der Würdelosigkeit ihrer gescheiterten Existenz. Während Leben nur der Versuch zu fantasieren bleibt, ist menschliche Zuneigung das einzig Reale, was trägt.

Mit «Der letzte grosse Traum» ist Johannes Dullin (Regie), Florian Butsch (Spiel) und Gregor Schaller (Spiel) etwas ganz Aussergewöhnliches gelungen. Hätte Becket Schweizerdeutsch verstanden, dann hätte er den Geist seiner Charaktere an diesem Abend wiederfinden können. Durch die Komik hindurch tritt uns sowohl im Skript als auch im Schauspielen eine virtuose Fähigkeit entgegen, sich in kleinen Szenen und Lebensläufen grossen Themen anhand von Klischees zu stellen, deren Tragik subversiv ausgelotet und ausgehalten wird. Florian Butsch und Gregor Schaller zeigen meisterhaft die Kunst der Zurückhaltung und fein abgestimmten, skurrilen Kontrolle emotional hochexplosiver Stimmungen, während ihre körperlichen Begegnungen genuine Gefühle widerspiegeln. Hier wird eine Utopie männlicher Zuneigung berührend und ermutigend vorgeführt auf einem vier auf vier Meter Tableau (Lola Rosenrot, Technik/Licht), das mit wenigen Mitteln viele Räume anzudeuten weiss, nicht zuletzt unseren gemeinsamen Raum der Unmöglichkeiten und rettenden Begegnung.