Städtebaulicher Umbruch in Bern

von Markus Schürpf 18. Oktober 2016

1863/64 fotografierte Adolph Braun vom Christoffelturm aus Berns Panorama in drei Aufnahmen. Die dritte, hier abgebildet, zeigt die Stadt Richtung Südosten. Eine Trouvaille. Und ein Zeugnis des damaligen Umbruchs im Stadtbild.

Die Geschichte ist bekannt: Mit 415 gegen 411 Stimmen entscheidet die Berner Einwohnerschaft 1864 kurz vor Weihnachten, den Christoffelturm abzubrechen. Nur gerade 41% der Stimmberechtigten haben sich für die Abstimmung in der Heiliggeistkirche eingefunden und setzen einem Jahrzehnte lang geführten Kampf ein Ende. Für die einen ist der Turm ein Wahrzeichen des Alten Bern, das erhalten bleiben soll; für die andern ein nutzloser Koloss, der dem Fortschritt im Weg steht. Innert weniger Wochen wird das altehrwürdige Bauwerk abgebrochen. Zwischen dem 1858 in Betrieb genommenen Bahnhof und der wenig später errichteten Eidgenössischen Bank entsteht eine freie Fläche, die für mehr als ein Jahrhundert eher einer Verkehrsdrehscheibe gleicht als einem Platz.

Ein Panorama aus der Hochwächterstube

Nicht bekannt ist, dass kurz vor dessen Abbruch vom Christoffelturm aus ein fotografisches Panorama erstellt wird. Von der Hochwächterstube im Dachstock heraus, wie zu vermuten ist, lichtet der elsässische Verlagsfotograf Adolph Braun die Altstadt aus einer Höhe von knapp vierzig Metern in drei Aufnahmen ab. Die Fotos dürften zwischen der Fertigstellung des Bernabrunnens 1863 und dem Entscheid, den Christoffel abzubrechen, entstanden sein, also 1863/64.

Die eine der drei Aufnahmen zeigt in nordöstlicher Richtung den Turmhelm der Heiliggeistkirche in einer heute merkwürdig anmutenden Nahsicht, links davon in der Ferne die gerade neu entstehenden Häuser in der Lorraine und rechts den noch weitgehend unbebauten Abhang des Rabbentals.

Beim Mittelteil des Panoramas, für den der Fotograf die Kamera auf den Verlauf der Spitalgasse ausrichtet, geht der Blick über die lebendige Dachlandschaft hinweg zwischen den verschiedenen Tor- und Kirchtürmen hindurch bis zum Aargauer- und Muristalden. Besonders eindrücklich ist die Fernsicht zwischen Bantiger und Ostermundigenberg.

Der Blick nach Südosten

Der dritte Teil des Panoramas, die hier abgebildet ist und Richtung Südosten nur noch einen Teil der städtischen Dachlandschaft zeigt, offenbart schliesslich den städtebaulichen Umbruch, dem der Christoffelturm letztlich zum Opfer fällt. Über den Dachgiebeln der Schauplatzgasse steht im Mittelpunkt das Bundesrathaus – das heutige Bundeshaus West – und davor, im offenen Geviert zwischen den Seitenflügeln, der Bernabrunnen. Erst auf den zweiten Blick sind vor dem repräsentativen Bauwerk die Bauprofile zu erkennen, die vis-à-vis das zweiteilige Neubauprojekt zwischen Schauplatzgasse und Bundesgasse ankündigen. Zwischen Christoffelgasse und Bundesplatz wird dieses Vorhaben zwei Blockrandbebauungen umfassen, unterteilt von der neu geschaffenen Gurtengasse. Wie der neue Gebäudeteil mit Glasdach sowie der Kran am rechten Bildrand erahnen lassen, sind die Bauarbeiten bereits im Gange.

Natürlich schliesst auch diese Ansicht mit einem spektakulären Ausblick: Man sieht im Mittelgrund das noch praktisch unberührte Kirchenfeld und dahinter die Hügel des Berner Hinterlandes.

Bisher unentdeckte Fotos

Das Christoffel-Panorama ist eine bisher unentdeckt gebliebene Trouvaille mit sowohl fotohistorisch als auch städtebaulich hohem Wert. Anders als das dreissig Jahre später von Hermann Völlger vom fertiggestellten Münsterturm geschossene achtteilige 360°-Panorama ist es mit drei Aufnahmen zwar bedeutend kleiner und zeigt bloss ungefähr einen Drittel des vollen Gesichtskreises. Vom Aufnahmemoment und dem heute verschwundenen Aufnahmestandort sowie der ganzen Fülle an baulichen Einzelheiten her sind die Ansichten schon fast gespenstisch anmutende Dokumente eines für die Entwicklung Berns entscheidenden Epochenumbruchs.

Teil des „Christoffel-Albums”

Heute sind die drei Albuminabzüge Teil einer Serie von insgesamt dreizehn Aufnahmen, die allesamt den abgebrochenen Turm zum Thema haben und heute gebunden als «Christoffel-Album» in der bernischen Universitätsbibliothek liegen. Sieben Fotos, darunter die drei Panoramabilder, stammen von Adolph Braun (1812–1877), zwei von Carl Corrodi (Lebensdaten unbekannt), der in den 1860er Jahren in Bern arbeitete, und eines von Emil Nicola-Karlen (1840–1898).

Wie eine handschriftliche Notiz verrät, stammen die Fotografien aus dem Nachlass des 1883 verstorbenen Architekten, Gipsfabrikanten und Badbesitzers Johann Rudolf König. Insgesamt gehört das Album zu einem weit grösseren Konvolut alter Stadtpläne und Ansichten, das die damalige Stadtbibliothek zunächst ausgeschlagen, von Burgerrat Oberst von Sinner aber schliesslich geschenkt bekommen hatte.

Urheber der Notiz und vermutlich auch Verfertiger und Donator des Albums ist der Geologe, Archäologe und Alpinist Edmund von Fellenberg (1838-1902), der schon früher als «Reliquiar» in Sachen Christoffel aktiv war. 1878 schenkt er der Zunft zu Schmieden den sogenannten «Daumenbecher», den er aus einem der riesigen Daumen der Christoffelfigur herstellen liess. Ausgeschlagen mit Silber dient er bis heute als Trinkgefäss. An seine Herkunft erinnert ein eingraviertes Gedicht, das auch im Album niedergeschrieben ist, dessen letzte Strophe lautet:

«Einst an Christoffels Riesenhand
Den unser Zeitgeist schnöd verbannt
Söhn ich dereinst bei heitrem Schmaus
Das Alte mit dem Neuen aus.»

Hinweis: Am 20. Oktober um 19 Uhr startet im Kornhausforum die Vortragsreihe des ArchitekturForums Bern über die Architektur der Eidgenossenschaft. Den Auftakt macht unter dem Titel „Bern und der Bund – Vernunftehe oder Liebesheirat?” ein Podiumsgespräch, das der Architekturhistoriker Christoph Schläppi einleitet und moderiert.