Im Anschluss an das Demonstrationsrekordjahr 2019 dominierten die Corona-Massnahmen die Diskussion um Kundgebungen in der Bundesstadt. Die Massnahmen waren seither einerseits Anstoss für Demonstrationen, andererseits legten sie auch die Grundlage dafür, dass der Kanton Bern zeitweise ein Demonstrationsverbot schuf. Als die Klimabewegung es im März 2021 trotzdem wagte, einen Sitzstreik auf dem Waisenhausplatz abzuhalten, verschickte die Staatsanwaltschaft Bussen (Journal B berichtete). Kürzlich hat das Bundesgericht entschieden, dass die damals geltende 15-Personen-Regel für Demonstrationen unzulässig war.
Jetzt stellen sich städtischer und kantonaler Politik aber ganz neue Herausforderungen. Die meist unbewilligten Demonstrationen der Massnahmen-Gegner*innen der letzten Wochen haben zu einer Verschärfung des Tons in der Debatte um die Demonstrationsfreiheit geführt. In einem Interview mit dem «Bund» verlangte der kantonale Sicherheitsdirektor Philippe Müller vor wenigen Wochen, die Stadt solle die Kostenüberwälzung auf Teilnehmende prüfen. Die Möglichkeit für eine solche Kostenüberwälzung sieht das kantonale Polizeigesetz vor. Dieses ist Anfang 2020 in Kraft getreten. Das Referendum dagegen wurde zuvor von der Berner Stimmbevölkerung abgelehnt. Die Kritik von linker Seite ging aber auch nach dem Urnengang weiter. Ein Verbund von Organisationen und Privatpersonen beantragte beim Bundesgericht eine abstrakte Normenkontrolle über drei Passagen des Gesetzes, darunter der Artikel zur Kostenüberwälzung. Das Bundesgericht urteilte Ende April 2020 diese Bestimmung sei zulässig. Seither besteht eine juristische Basis, Kosten eines Polizeieinsatzes Organisierenden oder Teilnehmenden einer gewalttätigen Demonstration aufzuerlegen.
Kurz nach dem öffentlichen Vorpreschen Philippe Müllers hat die Stadt Bern bereits reagiert. Nach der Demonstration der Massnahmen-Gegner*innen vom 15. Oktober ersuchte sie bei der Kantonspolizei darum, dass ihr nachweislich gewalttätige Teilnehmende gemeldet werden. Diese sollen per Rechnung einen Teil der Polizeikosten begleichen müssen. Damit könnte dieser Passus des neuen Polizeigesetzes erstmalig zur Anwendung kommen. Noch vor drei Jahren schrieb der Gemeinderat in seiner Antwort auf eine entsprechende Motion: «Eine Weiterverrechnung der Kosten für die polizeiliche Leistungserbringung soll nur ausnahmsweise – als ultima ratio – ins Auge gefasst werden.» Es scheint, die Demonstrationen der vergangenen Wochen hätten dazu geführt, dass dieses letzte Mittel ergriffen werden soll.
Ob diese Praxis in Zukunft für die Stadt aber überhaupt eine Möglichkeit bleiben wird, darüber entscheidet morgen Abend der Berner Stadtrat. Dieser berät in zweiter Lesung über die Teilrevision des städtischen Kundgebungsreglements. Zwei Anträge fordern die Unterlassung der Kostenüberwälzung auf Demonstrierende. Zwar ermöglicht das kantonale Polizeigesetz dies grundsätzlich, doch ist es den Gemeinden überlassen, ob im Einzelfall die Kosten eines Polizeieinsatzes effektiv Organisator*innen oder Teilnehmenden weiterverrechnet werden sollen. Aus der SP/JUSO-Fraktion stammt der morgen zu behandelnde Antrag, auf die Kostenüberwälzung zu verzichten, sofern die Organisierenden den Pflichten des Kundgebungsreglements nachgekommen sind. Die Fraktion GB/JA stellt den Antrag, grundsätzlich auf eine Weiterverrechnung der Kosten zu verzichten.
Es ist also ein ungewöhnlicher Schulterschluss, der morgen entstehen könnte; obwohl sich die aktuellen Diskussionen über eine Kostenüberwälzung auf die Demonstrationen der Massnahmen-Kritikerinnen beziehen, befürchten insbesondere Politiker*innen aus dem linken Kreis die generelle Wirkung, die eine solche Praxis haben könnte. Bereits bei dem Referendum gegen das Polizeigesetz wurde vor einem «chilling effect» der Kostenüberwälzung gewarnt: Die mögliche Gefahr, für Kosten eines Polizeieinsatzes aufkommen zu müssen, könnte Bürger*innen hemmen, für ihre Forderungen überhaupt auf die Strasse zu gehen. Die Gegenseite hielt entgegen, dass es für eine Kostenüberwälzung hohe rechtliche Hürden gäbe und friedliche Teilnehmende nichts zu befürchten hätten.
Word. Wir
werden uns dagegen wehren, dass Einsatzkosten der @PoliceBern
auf Organisator*innen von Kundgebungen abgewälzt werden – egal wer
demonstriert, hier geht es um demokratische Grundrechte. Auch wenn ich Kaffee
bevorzuge. https://t.co/CSllz3garK—
Rahel Ruch (@RahelRuch) October
6, 2021
Auch im weiteren Verlauf der morgigen Sitzung beschäftigt sich das städtische Parlament mit Fragen zu Kundgebungen auf Berner Boden. So könnte der Stadtrat morgen einführen, dass kleinere Kundgebungen in einem einfacheren und rascheren Verfahren bewilligt werden. Als Obergrenze für kleine Kundgebungen schlagen SP und JUSO 100 Teilnehmende vor. Die GB/JA-Fraktion erachtet für Kundgebungen bis zu 500 Personen ein vereinfachtes Verfahren für angebracht. Für diese Veranstaltungen sollen dementsprechend kürzere Fristen zur Einreichung eines Gesuchs gelten.