Im Herbst 2016 hat der Kanton Bern seinen jährlichen Beitrag an die Beratungstätigkeit des Vereins Homosexuelle Arbeitsgruppen Bern (HAB) im Umfang von rund 20’000 Franken ersatzlos gestrichen. Stadträtinnen und Stadträte aller Fraktionen haben letzte Woche die interfraktionelle Motion «Sicherstellung des Beratungsangebots für die LGBTI-Community» eingereicht, wonach die Stadt die ausgefallene Unterstützung übernehmen und sich dafür einsetzen soll, dass der Kanton seinen Beitrag wieder leistet. Eine wichtige Motion zur richtigen Zeit, denn der Wegfall der kantonalen Unterstützungsgelder hat bereits zu einer empfindlichen Einschränkung des Dienstleistungsangebots der HAB geführt, wie deren Präsident Christoph Janser im Gespräch berichtet.
Das Coming-out bleibt schwierig
Die gute Nachricht vorab: Nach wie vor können sich lesbische, schwule, bi-, trans- und intersexuelle Menschen (nachfolgend LGBTI) bei der HAB telefonisch, per E-Mail oder persönlich beraten lassen. Dieses Angebot ist denn auch dringend notwendig, so Christoph Janser, bleibe doch das Coming-out für LGBTI-Menschen bis in die heutige Zeit eine Herausforderung. Wie sag ich’s meinen Eltern? Was erzähle ich am Arbeitsplatz, wenn die Kolleginnen und Kollegen von ihren Wochenendaktivitäten mit Familie und Kindern berichten? Wohin wende ich mich, wenn ich mich allein gelassen fühle oder gar Suizidgedanken hege? Wo finde ich Gleichgesinnte?
Freiwilliges Beratungsteam mit Profi
Für solche und ähnliche Fragen bietet die HAB ein niederschwelliges Beratungsangebot. Mensch kann sich telefonisch und per E-Mail melden und davon ausgehen, an eine verständnisvolle Beratungsperson zu gelangen, die ähnliches erlebt hat. Zur Beratungsgruppe der HAB gehören rund zwanzig Freiwillige, die telefonische und schriftliche Beratungen per Mail durchführen. Die ehrenamtlich Beratenden werden durch einen Psychologen unterstützt. Regelmässige Supervisionen, Beratungssitzungen und Weiterbildungen unter Anleitung des Profis garantieren eine gute Beratungsqualität. Ratsuchende können sich auch von ihm persönlich beraten lassen. Weiter bietet der Psychologe eine wöchentliche Gesprächsgruppe an. Die Arbeit des HAB-Psychologen, sozusagen die Achillesferse des Beratungsangebots, wurde bis anhin durch den Kantonsbeitrag entschädigt.
Hohe Anforderungen und reduziertes Angebot
Auf die Bereitschaft des Kantons angesprochen, statt das bisherige Projekt neue Projekte mitzufinanzieren (siehe Kasten unten: «So sieht es der Kanton»), sagt Christoph Janser, man habe im Verein keine Ressourcen, solche zu entwickeln. Das bisherige Beratungsangebot habe sich zudem bewährt. So wurden 2015 rund 470 Beratungen durchgeführt (darunter 304 durch den HAB-Psychologen), und 2016 waren es 293 Beratungen (161). Knapp die Hälfte der Ratsuchenden stammt aus der Stadt Bern, die andere Hälfte aus der Region. Die Qualitätssicherung zuhanden des Kantons sei anspruchsvoll und für ehrenamtlich tätige Vereinsmitglieder in zeitlicher und methodischer Hinsicht kaum zu bewältigen, weiss der HAB-Präsident.
Ende letzten Jahres hat die HAB-Mitgliederversammlung beschlossen, das nunmehr bedrohte Beratungsangebot vollumfänglich aufrecht zu erhalten. Zur Kompensation des ausgefallenen Kantonsbeitrags von 20’000 Franken mussten andere Angebote gestrichen werden. So gibt es per 2017 keine gedruckte Version des Veranstaltungskalenders «Gay Agenda» mehr. Der Preis für das zweiwöchentlich organisierte Nachtessen «3gang», einem Treffpunkt für den Austausch in der Community, wurde erhöht. Weiter ist es der HAB nicht mehr möglich, Anlässe wie das jährliche Filmfestival «Queersicht» oder die Gay Prides in Zürich und in der Romandie zu unterstützen. Dies schränke die Handlungsfähigkeit des Vereins empfindlich ein, so Janser. Dank einem Spendenaufruf und Solianlässen konnten Mittel zugunsten des Beratungsangebots beschafft werden.
Breite Unterstützung im Stadtrat
Stadtrat Rudolf Friedli (SVP) hat die dringliche Interfraktionelle Motion initiiert und ist erfreut, dass mit Ausnahme der EVP alle anderen Parteien mitmachen. «Ich will, dass die HAB ihre Leistungen wie bisher erbringen kann und nicht wegen knappen Geldmitteln einzelne Angebote kürzen oder mehr von den Klienten verlangen muss.» Ihm liege insbesondere daran, dass das Beratungsangebot in vollem Umfang weitergeführt werden könne. «Ich kenne Personen, die Mühe mit ihrer Situation hatten und auf dieses Angebot angewiesen waren oder gewesen wären, wenn es damals bereits existiert hätte; seien es Jugendliche oder Erwachsene.»
Für Mitmotionärin Leena Schmitter (GB) ist klar, dass die finanzielle Unterstützung des LGBTI-Beratungsangebots eine kantonale Aufgabe ist. «Es ist nicht das Ziel, dass die Stadt diese Aufgabe langfristig übernimmt, sondern dass der Kanton seine Verantwortung wahrnimmt.» Die Stadt Bern gehe denn auch mit gutem Beispiel voran, was Menschenrechte und den Schutz von LGBTI-Menschen vor Diskriminierung anbelange, währenddem sich der Kanton mit seinem Sparentscheid in die gegenteilige Richtung bewege. So wurden zwei von ihr initiierte Vorstösse vom Stadtrat überwiesen, wonach Bern dem «Rainbow Cities Network» beitreten und die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von LGBTI-Menschen in allen Lebensbereichen und in der Stadtverwaltung fördern solle.
Die HAB macht weiter
Mit grossem Einsatz, unter schmerzlichem Verzicht und dank der Solidarität verschiedener Spenderinnen und Spender kann die HAB ihr vielseitiges und niederschwelliges Beratungsangebot vorerst weiterführen. Mensch darf gespannt sein auf die Antwort des Gemeinderates auf die interfraktionelle Motion – weil ihr die Dringlichkeit aberkannt worden ist, ist diese etwa in einem halben Jahr zu erwarten. Bleibt zu hoffen, dass der unglückliche, anachronistische und techno- und bürokratische Entscheid der zuständigen kantonalen Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) bald korrigiert wird.