Stadtnomaden: «Müssen uns anpassen»

von Sarah King 7. Januar 2014

Nach den Medienberichten der letzten Monate ist bekannt, wo die «Stadtnomaden» bald sein werden: In Riedbach, in einer Zone für experimentelles Wohnen. Doch wer sind sie? Eine Begegnung.

Wer vor fünf Jahren spät abends verbotenerweise auf die meterhohen Aushübe des Neufeldtunnelbaus kletterte, dem bot sich ein besonderer Anblick: Auf dem Berner Viererfeld züngelte ein Feuer in den Nachthimmel, ein paar Gestalten sassen ruhig in seinem Schein. Aus den Fenstern von rund zwei Dutzend Bauwagen drang Licht – Leuchtpunkte einer Siedlung, die im Bauareal anmutete wie eine Karawane in der Wüste. In der Dunkelheit war eine gehisste Piratenflagge mehr erahn- als sichtbar.

Eine Art Piraten waren sie wohl – die Männer und Frauen aus dem «Verein Alternative», die heute in den Medien als «Stadtnomaden» bekannt sind. Zu dieser Zeit bewohnten die Nomaden das Land noch unbewilligt, bis die Stadt einen Vertrag mit ihnen aushandelte: Bewilligter Aufenthalt im Tausch gegen ein «Rotationsprinzip». Alle drei Monate zieht die Gruppe seither mit ihrem Hab und Gut an einen neuen, zuvor festgelegten Standort. Neufeld, Mittelfeld, Wankdorf, Schermenareal. Vier Umzüge pro Jahr, sechzehn in den letzten vier Jahren.

Kontaktaufnahme: Schermenareal

«Immer aufbauen und abbrechen – das macht müde. Nicht unbedingt körperlich. Mehr psychisch», sagt Karl-Heinrich an einem kühlen Sonntagabend Anfang Oktober 2013. Den Namen wird der 23-Jährige mit Ziegenbärtli beim nächsten Wiedersehen spontan erfinden. Seinen eigenen möchte er nicht in den Medien lesen. Seit etwa einem Jahr ist Karl-Heinrich Teil des Vereins Alternative. Erfahrung mit dem Leben in Bauwagen machte er zuvor in Deutschland. Dort seien solche Plätze etabliert.

Vier Holzstufen führen in seinen Wohnbereich: Links das aus Holz gezimmerte Bett, in der Mitte ein kleiner Tisch, rechts die Küche, wo seine Freundin Knödel mit frischem Gemüse zubereitet. Über dem Ofen ist eine Schnur gespannt, auf der Wäsche zum Trocknen hängt. Karl-Heinrich dreht eine Zigarette. Er mag das Handwerk: «Wir machen – so weit es geht – alles selbst. Wir bauen unsere Wagen um, organisieren Wasser, bringen unser Abwasser selbst in die Kläranlage. Das ist das Schöne an diesem Leben.»

Die Hündin Machita gesellt sich dazu. Ihr glänzendes Fell lockt zum Streicheln. Vielleicht ahnt sie es, sie rückt etwas näher heran. Eine Weile ist es still im Raum. Das Beisammensein beschränkt sich auf das Aufwärmen für ein paar Minuten. Fragen und Antworten werden an diesem Sonntag noch nicht ausgetauscht. Ob es solche geben wird, dazu braucht es zuerst das Einverständnis der gesamten Gruppe, denn es gilt der Kollektiventscheid. Karl-Heinrich nennt die Nummer des Platztelefons für die weitere Koordination: «Meist haben wir sonntags Sitzung.»

Sonntagssitzung: Schermenareal

«Zieh dich warm und regenfest an.» Die SMS kommt Mitte Oktober von einem Mann, der nicht wichtig findet, dass man weiss, wie er sich nennt. Für jemanden, der ihn an diesem Abend sieht, könnte er zum Beispiel Zoggel heissen, denn seine Holzpantoffeln erregen Aufmerksamkeit. Vorsichtig, doch geübt balanciert er in ihnen über das matschige Gelände, ein Schafsfell in den Händen. Das Fell ist nicht Standard an den Sitzungen, aber Besucher, die nicht darin erprobt sind, an Herbstabenden Sitzungen im Freien zu bestreiten, nehmen das Angebot dankend an.

Zum geplanten Sitzungsbeginn um 18 Uhr ist ausser Zoggel niemand da. «Das dauert noch einen Moment. Bei uns ist das so üblich.» Sein schwarzer Hut wirft einen Schatten über seine Augen. Geduldig versucht er mit dem feuchten Zeitungspapier ein Feuer in Gang zu bringen.

Etwas weiter vorne im Gelände beschwert sich eine junge Frau, weil jemand ihre Karrette mit Abfall gefüllt hat. Sie braucht das Gefährt für den Transport von Brennholz. Eine andere junge Frau steigt aus einem Auto und verschwindet in einem kleinen Häuschen an dessen Türe ein grosses, rotes Herz aufgemalt ist. Das selbstgebaute Platz-WC.

Immer mehr Leute strömen aus ihren Bauwagen, zwanzig Minuten nach dem offiziellen Sitzungsbeginn sind die meisten um das Feuer versammelt. Karl-Heinrichs Freundin führt Protokoll. Sie könnte Anfang zwanzig sein. Das blonde Haar trägt sie zusammengebunden, ihre feinen Gesichtszüge wirken ernst, aber entspannt. «Ich fände es gut, wenn die Leute auch mal eine andere Seite von uns kennenlernen. Wir sind nicht anders als andere.» Oft würden im Zusammenhang mit den Stadtnomaden die Hunde, der Rauch oder der Lärm erwähnt.

Noch ein paar Minuten beschäftigt das Thema die Sitzung, zu hören sind skeptische und weniger skeptische Wortmeldungen, dann bleibt die Gruppe für die weiteren Traktanden unter sich. Der Geruch des Feuers hält die Erinnerungen an den Besuch bis zur nächsten Haarwäsche wach. Wie nach einem Grillabend an der Aare.

Nudeln mit Pilzen: Bern Neufeld

Zwei Wochen später, Anfang November. Auf dem Spielplatz Neufeld kosten zwei Väter mit ihren Kindern die letzten sonnigen Momente aus. Die heranziehenden Wolken versprechen Regen. Der Verein Alternative ist inzwischen wieder ins Neufeld umgezogen. Etwas Mut braucht es schon, sich vom Begrüssungsgebell der Hunde nicht beeindrucken zu lassen. Es erinnert an Spaziergänge durch Villenviertel oder an Patent Ochsners Songtext «Gloub keim wo bhouptet, Hüng wo bäue bysse nid». Vielleicht hat der «Bhoupti» aber Recht. Nach einer halben Minute interessieren sich die Hunde mehr für ein Holzklötzchen zum Spielen als für fremde Besucher.

Karl-Heinrich sitzt auf einem aus Snow- und Skateboard zusammengezimmerten Möbel vor seinem Wagen. Letzten Winter sei er zum ersten Mal Snowboard gefahren. Dass er das Brett jetzt als Gartenbank benutzt, wirft unausgesprochene Fragen auf. Seine Freundin ist nicht zuhause. Sie ist Schneiderin und erhält an diesem Tag Einblick in eine mögliche neue Stelle.

Am Feuer stehen die Köche. Phillip «mit zwei L und einem P» und Globi. Globi ist mit seinen zwanzig Jahren der Jüngste in der Gruppe. Er zieht von Wagen zu Wagen, um Zutaten für das Menu zu sammeln: Pilze, Sellerie, Mehl, Milch. Alles kommt in denselben Topf – verdünnt mit den ersten Regentropfen. Im Hintergrund schallt Musik aus einem grünen Bauwagen.

Vom Schlachthof aufs Mittelfeld

«Radio Sunshine» ruft Mario gut gelaunt. Er ist 34 und lebt seit sechs Jahren im Verein. In dieser Zeit hat er etwas «ausgebaut». Drei Wagen zählt der gebürtige Berner zu seinem Eigentum: Einen zum Wohnen, einen als Lagerraum, einen als Gartenterrasse. «Ich bin schon voller Pläne. Wenn wir in Riedbach einen festen Platz haben, will ich die Gartenterrasse zum Wohnzimmer machen und den Schlafwagen mit Efeu überwachsen lassen.» Vorerst hängt ein einzelnes Efeupflänzchen neben dem Eingang. Zum Testen, ob es winterfest sei.

Seine Wohnung gleicht derjenigen von Karl-Heinrich. Selbst gezimmertes Bett, ausgetäferte Wände, kleine Fenster mit Blick auf das Mittelfeld, eine Küche und ein kleiner Tisch. Stumm läuft ein Fernseher im Hintergrund. Mario schüttelt den Kopf. «Das habe ich nicht gelernt. Ich war früher Metzger und Schlachter.» Als er Gelenkprobleme bekam, hängte er den Job an den Nagel und arbeitete eine Weile auf dem Bau. «Solange, bis die Wirtschaft Einbussen machte. Ich war eine davon.» Seither arbeitet er im Reinigungsdienst. «Neu bin ich auch Teamleiter einer Putzequipe.» Etwas Stolz schwingt in seiner Aussage mit.

Die gleichen Rechte für alle

Teamleiter gibt es im Verein Alternative nicht. Alle sind gleichberechtigt. Weder das Alter noch die Dauer der Mitgliedschaft spiele eine Rolle. Also könnte heute jemand dazukommen und hätte gleich viel Mitspracherecht wie alle anderen? «Theoretisch schon. Aber ob er dann gehört wird, ist die andere Frage.» Mario lacht verschmitzt. Wie man sich durchsetzen kann, scheint eine Frage der Übung zu sein. «Ich glaube, ich rede zu leise», wird Globi später murmeln. Mit Humor verschafft er sich dann Gehör. «Wir werden kitschig hier im Regen.»

Der Topf mit den Nudeln an Pilzsauce steht im Hundehäuschen in Deckung. Auf dem Tisch im Hof füllen sich Teller mit Regenwasser. Viele haben sich in die Wärme ihrer geheizten Bauwagen zurückgezogen. Aus den Kaminen entweicht Rauch. «Hier stört das niemanden. Auf dem Mittelfeld schon.» Mario zeigt Verständnis: «Je nach Windrichtung zieht der Rauch in die geöffneten Fenster der Anwohner.»

200 Meter Kabel für 3500 Franken

Etwa fünf Rondellen Holz aus dem Forsthaus verbrennt er jeden Winter für eine warme Bleibe. «Mit Gas heizen ist teurer und führt zu Feuchtigkeit im Wagen.» Und Öfen am Stromkabel anschliessen sei eine Illusion. «Ein 200-Meter Kabel kostet 3500 Franken. An dieses kann man keine Öfeli anhängen. Wir laufen schon jetzt an der Grenze der Kapazität mit den Kühlschränken oder Fernsehern.» Über Marios Bett hängt ein Stromzähler. «20 Rappen das Kilowatt.»

«Gloub keim wo bhouptet d’Nomade zahle nid», könnte eine weitere Songzeile lauten. Kranken- und Wagenversicherung, Strom, Wasser, 3000 Franken Depot für die Platzmiete, Privatfahrzeuge und Baumaterial – da fällt einiges an Kosten an. Selbst Steuern bezahlen die Mitglieder des Vereins Alternative. «Auch wir müssen uns anpassen.»

Mario senkt den Blick: «Ich gebe zu, ich habe Steuerschulden. Aber mit den 2000 Franken, die ich monatlich mit meinem 100%-Job verdiene, geht es knapp auf.» Für das Privatleben brauche er auch noch was. Seit einem Jahr spart Mario für die Autoprüfung, damit er zu seinem kleinen Traktor noch einen alten Volvo kaufen kann.

Freiheit und Familie

Im bunten Bauwagen nebenan wohnt seine Freundin. Die beiden Wagen bilden zusammen mit dem Wagen von Karl-Heinrich und seiner Freundin eine feste Formation, die sich im Laufe der Zeit so ergeben hat. Eine Spaziergängerin bleibt stehen und grüsst. Andere reagieren weniger tolerant. «Geht zurück, wo ihr herkommt», sagte mal jemand.

Marios Stimme senkt sich. «Mit siebzehn wurde ich in ein Heim abgeschoben.» Eine Weile habe er danach Häuser besetzt, hatte auch mal eine eigene Wohnung, die sei aber abgebrannt, so begann er ein Leben im Bauwagen, «wegen der Freiheit». Er könne seine Sachen packen und gehen, wenn es ihm nicht mehr passt. Zur Familie habe er kaum Kontakt. «Mit dem Vater wird es langsam besser. Ab und zu kommt er einen Kaffee trinken. Nicht lange. Aber das reicht ja.»

Mario denkt nach. «Er ist jetzt meine Familie.» Mit dem Kinn zeigt er auf seinen Hund: Knorli, «mit einem R wegen des Patentschutzes». «Und meine Freundin. Einfach alle, mit denen ich guten Kontakt habe und die mir helfen, wenn ich es mal brauche.»

So wie der 33-jährige Ricardo. In ausgedehntem Berliner-Dialekt überreicht er Mario einen Pulli. «Der gefällt dir doch, oder?» Marios Blick schweift kritisch zwischen Pulli und dem um einen Kopf kleineren Berliner hin und her. «Ja schon, aber…» – «Also nimm ihn!» Etwas verlegen hält sich Mario den Pulli vor die Brust. «Dann sehe ich doch aus wie ein Meitschi. Der ist bauchfrei.»

Ein Hund mit Stauballergie

Auf das Erscheinungsbild legt Mario viel Wert, vor allem bei der Arbeit. «Ich kann nicht mit Erdstollen kommen, nur weil ich auf dem Feld wohne.» Auch seinen Wagen hält er sauber – unter anderem dem Hund zuliebe. «Knorli hat eine Stauballergie. Er hustete immer. Ärztliche Abklärungen blieben erfolglos. So kaufte ich einen Staubsauger mit einem Spezial-Mikro-Filter. Seither hustet der Hund nicht mehr.»

In der Zwischenzeit sind die Nudeln kalt. Die wenigsten haben gegessen. Zoggel, der heute mit geschlossenen Schuhen unterwegs ist, schöpfte sich zwei Teller voll. Die anderen aus der Gruppe belassen es bei Bier.

Wer sind sie also – die Stadtnomaden? Schwer zu sagen. Etwa 35 Leute zwischen 20 und 45, die ein Leben führen, wie es im Rahmen ihrer Möglichkeiten und ihrer Gesinnung für sie im Moment stimmt: Ein anderes als die Anwohner rundherum. Und doch zeigen sich im Kleinen die Parallelen: Auch der Verein Alternative bevorzugt Nudeln, die nicht verregnet sind.