Es ist der 14. Oktober, die Sonne drückt die wenigen Schleierwolken am Himmel zur Seite und als ich aus dem Bus Nummer 40 aussteige, verlangt mir die Hitze sogar den einen oder anderen Schweisstropfen ab. Kurz nach Feierabend tummeln sich im Rosengarten massenweise Leute, die vor den kommenden Wintermonaten noch einmal gehörig Sonne tanken wollen. Auf der Mauer gleich neben dem Restaurant Rosengarten sitzt Patrick Bolzli. Gut sichtbar hält er ein laminiertes Stück Papier in der Hand: «Free Walking Tours Bern» ist darauf zu lesen.
«Free Walking Tours» – so lautet der Anglizismus für Stadtführungen ohne Zahlungszwang. 2004 soll der Trend in Berlin seinen Anfang genommen haben. Mittlerweile findet man die gratis Stadtführungen in jeder grösseren Stadt Europas.
Weil die Free Walking Tours nicht dasselbe Zielpublikum ansprechen wie die professionelleren Touren der Touristenbüros, verstehen sich die beiden Anbieter nicht als Konkurrenten. Besucher der Free Walking Tours sind oft Backpacker und Reisende mit kleinem Budget, die kostenpflichtige Touren nicht als Alternative in Betracht ziehen.
Seit 2014 in Bern
Diesen Sommer haben die Free Walking Tours auch ihren Weg nach Bern gefunden. Die Initiative ergriffen Nora Räss und Patrick Bolzli. Zuerst noch unabhängig voneinander, begannen die Studentin und der Softwareentwickler im vergangenen August individuell Free Walking Tours anzubieten.
Als die beiden voneinander erfuhren, beschlossen Sie, das Vorhaben gemeinsam weiterzuführen und fusionierten kurzerhand. Seither sind sie Teil des schweizweiten Labels «Free Walking Tours Switzerland», einer Art Dachorganisation unabhängiger Anbieter von Free Walking Tours in der Schweiz.
«Wenn Mauern sprechen könnten»
Um 17 Uhr startet die Tour von Patrick im Rosengarten. «Wenn Mauern sprechen könnten, hätte die Stadt Bern eine Menge Geschichte zu erzählen.» So wird seine Tour auf der liebevoll gestalteten Website angepriesen. Der Weg führt vom Rosengarten quer durch die Altstadt und endet bei der Bundesterrasse.
Patrick, stellt von Anfang an klar, dass es sich nicht um eine professionelle Stadtführung mit einem ausgebildeten Tourguide handelt. Er erklärt der Gruppe, dass sie heute keine Stadtführung, sondern ein Stadtspaziergang mit einem Einheimischen erwarte – natürlich in Englisch.
Gemächlichen Tempos starten wir unseren Schlendergang Richtung Altstadt. Trotz traumhaftem Wetter sind wir nur zu dritt unterwegs. Das sei eine Ausnahme, sagt Patrick, normalerweise habe er mehr Publikum. Ein Restrisiko, dass niemand zur Tour erscheint, besteht aber immer, denn eine Anmeldung ist nicht nötig. «Zum Glück ist bis jetzt jedes Mal jemand aufgekreuzt.»
Spass und Ideale
Ich will von Patrick wissen, ob er in der zunehmenden Popularität der Free Walking Tours ein Zeichen gegen unsere ökonomisierte Gesellschaft sieht. Eine etwas verklärte Frage, wie ich feststelle, denn: »Ich denke nicht. In vielen Ländern sind die Touren viel professioneller aufgezogen und sind dadurch auch ohne Fixpreise zu einem echten Geschäft geworden», erklärt er.
Ich gebe aber noch nicht auf und hake nach. Muss man denn nicht zumindest eine grosse Portion Idealismus an den Tag legen, um mehrmals pro Woche eine Gruppe Touristen in der Stadt herumzuführen, ohne dabei auf ein festes Einkommen zu zählen? Natürlich habe er Ideale, antwortet Patrick. «Aber um ehrlich zu sein, mache ich es in erster Linie, weil es mir Spass macht. Wenn ich aber sehe, dass meine Gäste die gemeinsamen zwei Stunden genossen haben, freut und motiviert mich das schon sehr!»
Dass der 34 jährige IT-Spezialist jenseits des Aareufers in Wabern und damit nicht in der Gemeinde Bern selbst wohnt, tut der Qualität der Tour keinen Abbruch. Vielmehr schwappt Patricks offenkundiges Interesse für die Berner Geschichte sofort auf die Zuhörer über.
Gerechtigkeit über Adel und Klerus
Zwischendurch halten wir an, um uns eine Sehenswürdigkeit anzusehen, oder auch wenn Patrick eine Anekdote parat hat. So soll es in einem Haus oberhalb der Mahogany Hall spuken, denn es sei auf einem ehemaligen «Siechenfriedhof» erbaut worden.
Nach dem absehbaren Stopp am Bärengraben machen wir überraschenderweise auch beim Gerechtigkeitsbrunnen halt. Auf dem Sockel thront in üblicher Manier – mit Augenbinde, Schwert und Waage – die Personifikation der Gerechtigkeit, Justitia. Daneben sind, viel kleiner, so dass sie schon fast erbärmlich wirken, ein König und ein Bischof zu erkennen. «Das ist mein Lieblingsbrunnen. Die Grösse der Figuren zeigt, dass die Gerechtigkeit selbst über dem Adel und der Kirche steht», erklärt Patrick.
Wer im Land das Sagen hat
Zwei Stunden und einige Kilometer später erreichen wir den Bärenplatz. Weil das gigantische Glaszelt mit dem Namen «Swiss Dome» als letzter Zeuge der Miss-Schweiz-Wahl die Sicht auf das Bundeshaus verdeckt, wollen wir nicht lange stehen bleiben. Eine Anmerkung hat Patrick aber noch anzubringen: lasse man auf dem Bundesplatz stehend den Blick einmal im Kreis wandern und fokussiere die Gebäude, so sehe man, wer in diesem Land wirklich das Sagen hat. Gemeint sind natürlich die Banken, die den Bundesplatz in drei von vier Himmelsrichtungen ummanteln.
Auf der Bundesterrasse endet die Tour wie sie beim Rosengarten angefangen hat, mit einer zauberhaften Aussicht. Das Zuhören und Mitspazieren hat sich gelohnt. Mit vielen neuen Berner Geschichten und Mythen im Gepäck verabschiede ich mich von der Gruppe und schlendere alleine noch etwas weiter.