Stadtbürgerschaft jetzt!

von Rafael Egloff 9. November 2016

BERNER WAHLEN 2016 «In Bern ist die ausländische und papierlose Bevölkerung gänzlich aus dem politischen Prozess ausgeschlossen. Ein Armutszeugnis für eine urbane Demokratie – und eine grosse Chance für ein linkes Projekt.»

Was das Stadtberner RGM-Bündnis für mich bedeutet? Am ehesten ist es wohl eine Grundlage, von welcher aus wir weitergehen sollten. 24 Jahre RotGrünMitte sollten uns jedenfalls das Bewusstsein geben, in einer linksgeprägten Stadt zu wohnen. Und das ist doch schon mal was.

Keine Selbstverständlichkeit

Eine grosse Errungenschaft von RGM sehe ich in der Diskursverschiebung gegenüber kantonaler oder nationaler Politik: In der Stadt Bern hat man das Privileg, über 0,5-Parkplatz-Regelungen bei Neuüberbauungen, Quartierorganisationen und Velobrücken zu streiten, anstatt dem bürgerlichen Sparfetischismus nachhecheln zu müssen. Das ist zwar ein kleiner Erfolg, aber dennoch keine Selbstverständlichkeit. Ausserdem soll in wenigen Wochen eine Frau Stapi werden, was leider auch 45 Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts noch eine Erwähnung verdient. Schliesslich haben CVP, FDP und SVP das Kunststück geschafft, zusammen fünf (!) Männer und keine Frau für das Amt zu nominieren. Chapeau!

Dass die erwähnte Diskursverschiebung trotz dem bürgerlichen Tamedia-Einheitsbrei möglich ist, unterstreicht die Verankerung progressiver Einstellungen in der Stadtbevölkerung. Eine weitere Bestätigung liefert ein Blick auf die kantonale Politik. Ganz ehrlich: Ich bin angeekelt vom Kanton, der Sozialhilfebeziehende systematisch auszugrenzen versucht, die Einbürgerung nach Hess’schem Rezept pfeffert und 2017 die Reitschule mit einer Volksabstimmung angreifen wird. Die Stadt schwimmt bei den kantonalen Vorlagen meist gegen den Strom und zeigt damit, dass sie definitiv anders tickt als der Kanton.

Radikaler Alleingang

Gerade deshalb sollten wir in Bern auch keine Angst davor haben, den Stadt-Land-Graben auszunutzen und als Gemeinde im Alleingang neue Wege zu gehen. Die Frage, wo denn nach einem Vierteljahrhundert RGM grosse linke und urbane Visionen geblieben sind, ist nämlich durchaus berechtigt. Damit sind nicht zögerliche Reformen gemeint, sondern Ansätze, die grundlegende Veränderungen bringen.

So ist aus meiner Sicht das politische Bern noch weit davon entfernt, der urbanen Lebenswirklichkeit gerecht zu werden. 25 Prozent – ein Viertel – der Stadtbevölkerung verfügt über keinen Schweizerpass. Dazu kommen nicht registrierte Immigrierte, welche hier unterkommen. Wir müssen uns bewusst sein, dass aufgrund der verfehlten Asylpolitik die Anzahl Papierloser in der Stadt weiter zunehmen wird.

In Bern werden die angesprochenen Bevölkerungsgruppen gänzlich aus dem politischen Prozess ausgeschlossen, auch die kürzlich eingeführte «Ausländermotion» kann da nur als Trostpreis angesehen werden. In meinen Augen ist dies ein Armutszeugnis für eine urbane Demokratie – gleichzeitig aber auch eine grosse Chance für ein linkes Projekt.

Eine ID für alle

Um dem Missstand beizukommen, könnte Bern eine sogenannte Stadtbürgerschaft einführen (für diejenigen, die lieber mit englischen Begriffen um sich werfen: «Urban Citizenship»). Dabei handelt es sich um ein kommunales Identitätspapier, welches ausnahmslos allen StadtbewohnerInnen ausgestellt wird.

Diese «ID für alle» würde nicht nur die angesprochene politische Partizipation ermöglichen und damit die städtische Demokratie ins 21. Jahrhundert hieven. Sie wäre darüber hinaus ein machtvolles Instrument gegen die Ungleichbehandlung, mit welcher AusländerInnen und Sans-Papiers in Spitälern, Schulen, Arbeitsbeziehungen, bei der Wohnungssuche und nicht zuletzt im Umgang mit der Polizei konfrontiert sind. Bei Personenkontrollen, Job- und Wohnungsbewerbungen würde nur noch nach der städtischen ID gefragt. Zudem würden sich neue Spielräume für die Stadtpolitik ergeben – ich denke da beispielsweise an Gratis-ÖV, frei zugängliche Sporthallen oder ermässigte Kulturangebote für StadtbewohnerInnen.

Stachel im Arsch

Urban Citizenship ist keine utopische Gedankenspielerei, sondern hier und heute realisierbar. Dies zeigen Grossstädte, die eine Stadtbürgerschaft bereits eingeführt haben: Rotterdam, Toronto, sogar New York. Zudem haben wir, wie eingangs erwähnt, dank RGM die nötige politische Grundlage. Was es für solche Projekte braucht, sind junge Menschen im Stadtrat, die sich nicht davor scheuen, den Diskurs weiter nach links zu stossen. Darin sehe ich die Aufgabe der JUSO: Wir sind kompromisslos und damit – um die unheimlich elegante Metapher von JUSO-Präsidentin, Stadtratskandidatin und meiner wärmsten Wahlempfehlung Tamara Funiciello heranzuziehen – RGM ein «Stachel im Arsch»!