«Stadt nicht aus Sicht des Fahrzeugs planen»

von Urs Frieden 27. Mai 2015

Der Verein «Läbigi Stadt», der sich seit Jahren für mehr Lebensqualität in Bern einsetzt, präsentiert seine Visionen in einer lesenswerten Broschüre. Interview mit Nadine Masshardt, Präsidentin von «Läbigi Stadt» und SP-Nationalrätin.

Nadine, wie kam «Läbigi Stadt» auf die Idee, die Broschüre «Vision 2035 – Stadt der kurzen Wege» zu publizieren?

Nadine Masshardt:

Zum 20. Geburtstag vor zwei Jahren schauten wir zurück und fragten uns nicht zuletzt, wofür es «Läbigi Stadt» noch braucht. Als «eine Art Miliz-Thinktank», wie wir in den Medien auch schon umschrieben wurden, wollten wir uns und Bern auf unsere Art ein Geschenk machen. Bei einer Analyse der städtischen Verkehrspolitik der letzten Jahre kamen wir nämlich zum Schluss, dass neue Impulse guttun könnten.

Wieso eine Vision und nicht reelle Forderungen?

Visionäre Ideen und tagespolitische Forderungen schliessen sich überhaupt nicht aus. Die Vision ist das Ziel. Vorstösse, die wir für den Stadtrat am Formulieren sind, zielen in kleinen konkreten Schritten dahin. Ebenso wichtig sind all die laufenden oder ins Stocken geratenen Planungen, wo wir unsere Ideen nun ebenfalls einbringen.

Habt ihr alles selber geschrieben oder externe Fachleute beigezogen?

Wir haben alles wirklich selber geschrieben (lacht). Und mit dem Grafikatelier Müller Lütolf aus Bern versuchten wir, erste Ideen bereits grafisch umzusetzen. Nebst dem vielseitigen Fachwissen unserer ehrenamtlichen Vorstandsmitglieder liessen wir uns natürlich auch von externen Quellen inspirieren und haben unsere Vision für den Feinschliff mit ausgewählten Fachleuten besprochen.

Was soll denn ändern in der Stadtberner Verkehrspolitik?

Durch alle Anregungen der Vision 2035 zieht sich eine Idee: Die Stadt soll aus der Sicht des Menschen und nicht des Fahrzeugs geplant werden. Ziel ist eine Stadt der kurzen Wege. Denn der Platz existiert bekanntlich nur einmal und ist daher zu wertvoll, um einzig als Parkplatz oder Teerwüste zu dienen. Es sollen also nicht Strassen von A nach B entstehen, sondern Plätze, wo sich die Bewohnerinnen und Bewohner gerne aufhalten, einkehren oder einkaufen. Dann wird es beispielsweise zur Selbstverständlichkeit, dass sich Kinder ums Haus oder in aufgewerteten Innenhöfen, auf Grünflächen oder attraktiven Spielplätzen mitten im Quartier austoben können; schlicht dass wir im Quartier leben. Was nicht zuletzt dem lokalen Gewerbe nützt.

Welches ist eure Zielgruppe?

Unsere Vision 2035 richtet sich einerseits an Entscheidungsträgerinnen und -träger in Politik und Verwaltung, andererseits wollen wir interessierten Laien aufzeigen, wie Bern noch mehr Lebensqualität gewinnen kann. Daneben ist die Vision natürlich ein Grundlagenpapier für die künftigen Aktivitäten unseres Vereins.

Habt ihr schon erste Reaktionen erhalten?

Nach der doch sehr aufwändigen Erarbeitung im stillen Kämmerlein freuen uns natürlich die vielen konstruktiven Feedbacks. Nun wollen wir die Lobbyarbeit für unsere Ideen verstärken und bei verbündeten Organisationen und Parteien vorstellig werden. Besonders freut uns natürlich, dass aufgrund der Vision bereits neue Vereinsmitglieder beigetreten sind…

Bringst du einzelne Anliegen sogar in den Nationalrat ein?

National können wir hierzu nur die Rahmenbedingungen setzen, die konkreten Projekte werden kantonal oder noch häufiger kommunal umgesetzt. Oftmals gibt es jedoch Zusammenhänge, die nicht auf den ersten Augenblick zu erkennen sind. Setzt man sich national beispielsweise für die Idee einer 2000-Watt-Gesellschaft ein, so bedeutet dies lokal: Neue Wohnüberbauungen sollten maximal autoarm, idealerweise autofrei sein. Sonst sind diese Effizienzziele gar nicht erreichbar. Oder Tempo 30: Nachdem die meisten Quartierstrassen verkehrsberuhigt sind, merken wir nun, dass auch Hauptstrassen teilweise durch Quarteire führen und zu beruhigen sind. Der Bund könnte hier Vereinfachungen vornehmen. Aufgrund der guten Erfahrungen in der Stadt kann man im nationalen Parlament ambitionierte Forderungen stellen. Gerade in der Klimapolitik nehmen die Städte eine Vorreiterrolle ein.

Beim Stauffacherplatz hat man gesehen, dass man mit sanftem Druck und Dialogbereitschaft schnell etwas ändern kann. Braucht es euch noch?

Während die Vision im Druck war, lieferte uns die Gelateria di Berna den besten Beweis für unsere Hauptforderung: Die Bevölkerung wünscht sich mehr Piazza-Feeling in den Quartieren. Die Aktion zeigte beispielhaft, wie schnell der Raum an Attraktivität gewinnt, wenn er von den Anwohnenden als Verweilort wahrgenommen wird. Nebst einer echten Aufwertung des Stauffacherplatzes muss es jedoch unser Ziel sein, in allen Stadtteilen solch schöne Orte zu schaffen. Ganz im Sinn der Piazza-Motion, welche 2002 zwar vom Stadtrat überwiesen wurde, aber bis heute nicht umgesetzt ist.

Ihr verbindet Umweltschutz mit Lebensqualität. Holt man so noch Leute ab oder machen das nicht schon alle?

In den letzten 20 Jahren hat sich in der Tat der Zeitgeist geändert: Der Bundesplatz als Parkplatz, der Kornhausplatz als Kreuzung oder mehrspurige Einfallachsen in die Stadt sind Geschichte und damit die einstigen Forderungen von «Läbigi Stadt» glücklicherweise zu einem guten Teil Mainstream. Für den nächsten Schritt zu mehr Lebensqualität müssen wir die Vorteile, die unsere Stadt aus dem Mittelalter hat, wieder nutzen: die kurzen Wege. Als UNESCO-Weltkulturerbe zeigt die Altstadt im Grundsatz, wie unser Ziel funktioniert: Arbeiten, Einkaufen, Wohnen und Freizeit auf möglichst engem Raum. Diese Idee versuchen wir – in die heutige Zeit übersetzt – in der Vision in die Quartiere zu tragen. Von diesem gesamtheitlichen Ansatz soll am Ende nicht nur die Umwelt profitieren, sondern jede und jeder Einzelne, die Gemeinschaft wie auch das Kleingewerbe.