Spittelers Nobelpreis (3): Fränkels Durchbruch

von Fredi Lerch 19. Oktober 2019

Seit 1912 versucht Jonas Fränkel als Privatdozent an der Universität Bern mit Eingaben in Stockholm Carl Spitteler den Literaturnobelpreis zu sichern – bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs erfolglos. Fränkel bleibt dran. 

Nachdem das Komitee in Stockholm 1914 keinen Literaturnobelpreis verliehen hat, spricht es ihn für 1915 dem französischen Autor Romain Rolland zu, für 1916 dessen schwedischem Kollegen Verner von Heidenstam. Beide Preisträger werden 1916 geehrt. Gut möglich, dass sie sich bei dieser Gelegenheit persönlich kennengelernt haben. 

Jonas Fränkel verfolgt die Ereignisse in der Zeitung und schreibt am 10. November 1916 aus Bümpliz an Rolland, der seit dem Ausbruch des Krieges am Genfersee lebt: «Hochgeehrter Herr, empfangen Sie meine herzlichsten Glückwünsche zum Nobelpreise! Ich selber habe, da ich in meiner Eigenschaft als Universitätsdozent für Litteratur das Vorschlagsrecht besitze, seit 1912 lebhaft für die Erteilung des Nobelpreises an Spitteler agitiert, – im Jahre 1914 mit Unterstützung mehrerer Kollegen an deutschen und Schweizer Universitäten […]. Letztes Jahr habe ich dann meinen Vorschlag noch einmal wiederholt, doch die Herren in Stockholm wollen nichts von Spitteler wissen… Da nun doch einmal Spitteler der Preis nicht erteilt werden sollte, freue ich mich herzlich, dass er wenigstens diesmal einem Würdigen zugefallen ist, für den auch ich, wenn ich hierzu Gelegenheit gehabt hätte, mich aus voller Überzeugung auch eingesetzt hätte. / Empfangen Sie die Versicherung meiner Hochschätzung u. Verehrung! / Ihr ergebener Jonas Fränkel». 

Diese Briefkopie liegt in Fränkels Nachlassmappe mit der Rolland-Korrespondenz. Rollands Antwort fehlt. Jedoch hat Fränkel am 29. Januar 1926 in einem Artikel für den «Bund» einen Rolland-Brief aus dem Jahr 1916 zitiert, der dieses Antwortschreiben sein könnte. Das Zitat zeigt, dass er bei Rolland in Sachen Spitteler auf einen Gleichgesinnten stiess: «Euer grosser Spitteler! Ich kann nicht genug sagen, wie sehr er mir am Herzen liegt. Seine Entdeckung erhellte mir die dunkelsten Monate dieser tragischen Jahre. […] Der grösste deutsche Dichter und zweifellos der höchste seit Goethe.»

Rollands Brief an das Nobelpreis-Komitee

In seinem Buch «Spitteler. Huldigungen und Begegnungen» von 1945 dokumentiert Fränkel, wie Rolland in Sachen Spitteler vorgegangen ist. Er hat am 13. Februar 1918 einen Brief an Verner von Heidenstam geschrieben, der nicht nur Literaturnobelpreisträger war, sondern von 1912 bis zu seinem Tod 1940 selber der preisverleihenden Schwedischen Akademie angehörte und 1918 – in Fränkels Worten – als «Sekretär der Nobelstiftung für den Literaturpreis» wirkte. Rolland schrieb an ihn unter anderem: 

«Verehrter Herr,

Schweizer Universitätsprofessoren, die Carl Spittelers Kandidatur für den Nobel-Preis der Literatur aufstellen, haben sich an mich um Unterstützung ihres Gesuches gewendet. […]

Die Lektüre der grossen Dichtungen Spittelers war für mich während des Krieges eine Entdeckung, und ich darf sagen, dass sie mir diese dunklen Jahre erleuchtet hat. Ich hatte das Gefühl, einer jener gewaltigen Gestalten aus der Geschichte der Kunst begegnet zu sein, von denen man seufzend zu sagen pflegt, man finde sie nur höchst selten, da und dort, in vergangenen Jahrhunderten. Maler, Dichter und Denker, ist er einer der letzten grossen Schöpfer von Mythen, epischen Legenden und philosophischen Parabeln. Sicher der weitaus grösste Dichter, den die Schweiz je hervorgebracht. […] Ich beuge mich vor ihm in tiefer Ehrfurcht als vor einem Meister der Kunst und des Lebens.

Ich hoffe, die Schwedische Akademie werde diese Zeilen entschuldigen, um die sie mich nicht gebeten hat. Doch wenn mir ein Werk so viel Stärkung und so viel Freude gespendet hat wie das Spittelers, drängt es mich, ihm meine Schuld abzuzahlen, indem ich versuche, ihm die Liebe anderer Menschen zuzuführen.

Romain Rolland»

Heidenstams Antwort an Rolland

In Fränkels Nachlass findet sich ein Brief von Rolland vom 7. Juni 1918, dem in einer Abschrift die Antwort von Heidenstams an Rolland vom 18. März 1918 beiliegt. Von Heidenstam schrieb demnach:

«Geehrter Herr

Ich war sehr erfreut über Ihr Schreiben, denn ich stimme Ihrer Meinung in der Angelegenheit Spitteler voll und ganz zu. Letztes Jahr habe ich ihn als meinen Kandidaten für den Nobelpreis vorgestellt.

Ich habe mich oft zu seinen Verdiensten geäussert, und ich werde mir erlauben, Passagen aus Ihrem Schreiben zu zitieren, wenn es der Sache dient; ich hoffe, Sie betrachten es nicht als Indiskretion. Meine Kollegen werden sich dafür interessieren. Ich höre mehr, als ich weiss, dass viele ihn für einen der Grossen halten. Und auch ich werde das so sagen, aber es ist offensichtlich, dass viele Bewerbungen eingereicht werden und dass die Standpunkte unterschiedlich sind, vor allem während dieses blutigen Krieges, der Europa heimsucht.

Bitte akzeptieren Sie, sehr geehrter Herr, die Zusicherung meiner freundlichen Grüsse

Verner von Heidenstam» 

Es war ein junger polnischer Intellektueller

Sehr wahrscheinlich bedeutete diese Korrespondenz zwischen Rolland und von Heidenstam den Durchbruch für Carl Spitteler als Literaturnobelpreis-Kandidat. Und sehr wahrscheinlich war die entscheidende Vorarbeit, dass es überhaupt zu diesem Briefwechsel kam, Jonas Fränkels Kontaktaufnahme mit Rolland im fünften Jahr seiner Bemühungen für Spitteler. Der Literaturnobelpreis wurde Spitteler für 1919 zuerkannt, verliehen wurde er ihm 1920. 

So feiert die offizielle Schweiz nun «unseren einzigen Literaturnobelpreisträger» (für jene Schweiz war Hermann Hesse, der den Literaturnobelpreis 1946 bekam, bloss ein 1924 eingebürgerter Ausländer). Diese Schweiz möchte auch lieber nicht zur Kenntnis nehmen, dass es das Engagement eines jungen österreichischen, seit 1918 polnischen Intellektuellen war, der Spitteler via einen prominenten französischen und einen prominenten schwedischen Literaten zum Nobelpreis verhalf.

Denn es ist so: Während seiner Lobbyarbeit für Spitteler war Fränkel ein Ausländer, ein «Ostjude», wie man damals sagte. Erst 1919 wurde er in die Schweiz eingebürgert. Eine ordentliche Professur erhielt er in der Schweiz zeitlebens nicht – auch wegen seiner Herkunft. So blieb er der ausserordentlichste Professor von Bern

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Nach Spittelers Tod 1924 kämpfte Jonas Fränkel vergeblich bis vor Bundesgericht um sein Recht, Zugang zu Spittelers Nachlass zu bekommen, um seine vorbereitete Spitteler-Biografie abschliessen und die mit Spitteler vorbesprochene Gesamtausgabe zusammenstellen zu können. Alles blieb ihm verwehrt: Die Werkausgabe wurde zwischen 1945 und 1958 von Wilhelm Altwegg, Gottfried Bohnenblust und Robert Faesi herausgegeben, die Biografie 1973 von Werner Stauffacher. 

Alle vier gebürtige Schweizer, versteht sich.