Sorglosigkeit in Schneeflockenform

von Meret 13. Dezember 2023

Klimawandel Den Winterzauber Anfang Dezember empfand auch unsere Kolumnistin als magisch, wenn auch nur für kurze Zeit. Doch das reichte ihr, um mehr Verständnis zu entwickeln.

Der Dauerregen dieser Woche spült die Erinnerungen an das Winterwunderland, das Bern Anfang Dezember war, nach und nach weg. Die Bilder von Häuser und Strassen unter einer dicken Schneeschicht strömen gemeinsam mit den Rinnsalen, die den Trottoirs entlang fliessen, in einen städtischen Gullideckel und geraten in Vergessenheit.
Damals wurden nicht nur die Geräusche der Stadt von der weissen Decke gedämpft, auch mein innerer Lärm rückte plötzlich in den Hintergrund – so, als hätte ich ganz unerwartet eine Taste entdeckt, mit der ich die Lautstärke meiner Innenwelt regulieren konnte.

Der Schneefall erschwerte nicht nur den Busfahrer*innen den Blick auf die Strasse, sondern auch für ein paar Stunden, vielleicht sogar ein, zwei ganze Tage, meine Sicht auf all die kummer- und sorgenbereitenden Zustände dieser Welt. Mit jeder Flocke, die vom Himmel tanzte, verstummten die Schreie, die stets in meinem Kopf und Herzen stattfinden, ein kleines bisschen mehr. Mir war, als trüge jeder Schneekristall einen Hauch von Sorglosigkeit in sich.

Auch wenn diese Empfindung zweifellos angenehm und wohltuend war, ist sie eine trügerische Täuschung. Auch wenn ich wieder einmal zu Neuschnee aufwachen konnte, bedeutet das nicht, dass die Welt intakter geworden wäre.

Ich habe selbst erfahren, wie leicht es ist, meinen Blick vom breiten Horizont abzuwenden.

Und auch wenn es so einfach wäre, sich einzureden, dass alles gar nicht so schlimm sei, rasen wir in Windeseile von Katastrophe zu Katastrophe, bis wir auch noch die letzten selbstverstärkenden Rückkopplungseffekte, die das Klima endgültig zum Kippen bringen werden, in Gang gesetzt haben. Während der Schnee hier wie ein kleines Pflaster auf eine grosse, blutende Wunde wirkt (also weder langfristig noch wirklich nutzbringend), überlegen sich Erdöllobbyist*innen in Dubai unter grünem Deckmäntelchen, wie sie noch mehr Profit schlagen können.

Überhaupt nichts ist gut. Niente.

Aber die Erfahrung, wie viel ein bisschen Wasser in festem Aggregatzustand bewirken kann, hilft mir womöglich, gewisse Menschen etwas besser verstehen zu können. Jene Menschen, die die Klimakrise für einen Mythos halten, sobald im Winter Schnee fällt oder im Sommer die Temperaturen während einer Woche ausnahmsweise nicht über die Dreissig-Grad-Marke klettern. Jene Menschen, die sich ihr Leben verdammt leicht machen, in dem sie ihre Augen einfach vor unschönen Wahrheiten verschliessen.

Es ist von grosser Wichtigkeit, dass ich Menschen, die völlig andere Grundsätze haben, verstehen kann.

Ich habe selbst erfahren, wie leicht es ist, meinen Blick vom breiten Horizont abzuwenden und mich in meinen eigenen symbolischen vier Wänden an einen vermeintlichen Frieden festzuklammern. Es ist von grosser Wichtigkeit, dass ich Menschen, die völlig andere Grundsätze haben, verstehen kann. Ich spreche nicht von einem emotionalen, sondern einem rationalen, psychologischen Verständnis. Dieses Nachvollziehen-Können hilft in Diskussionen und mag bewirken, dass ich andere Leute in ihrem Blickwinkel abholen kann.

Doch nichtsdestotrotz treibt es mich zur Verzweiflung, wenn ich sehe, wie leicht sich manche Menschen ihr Leben machen. Schneeflocken, aber auch andere Schönheiten des Alltags (oder unterdessen eben nicht mehr Alltag) dürfen, ja sollen, eine gewisse Sorglosigkeit mit sich bringen. Doch sobald dann die grossen und wichtigen Dinge in Vergessenheit geraten, wünsche ich mir, dass manche Schneeflocken auch Solidarität, Verantwortungsbewusstsein und Empathie mit sich bringen, und sich auf den Mützen und Mänteln der Leute, die es am nötigsten haben, niederlassen.