So tickt die neue Stadtratspräsidentin

von Noah Pilloud 23. Dezember 2025

Stadtpolitik Jung, links, migrantisch, aktivistisch: Ab dem neuen Jahr übernimmt Jelena Filipovic (GB) das Ratspräsidium im Stadtparlament. Die Politikerin mit Leib und Seele hat bereits in Basel und Zürich gewohnt, doch in Berns Westen fühlt sie sich besonders wohl.

Jelena Filipovic lebt für die Politik. Das wird beim Treffen mit der designierten Stadtratspräsidentin schnell klar. Als Treffpunkt hat sie die Volksschule Tscharnergut ausgewählt, wenige hundert Meter von ihrem Wohnort entfernt. Das Sanierungsprojekt für das Schulhaus konnte Filipovic, die für das Grüne Bündnis (GB) im Stadtrat sitzt in der Kommission für Planung, Verkehr und Stadtgrün entscheidend mitprägen.

«Sehen Sie, die Sichtbetonfassade bröckelt hier und im Sommer ist die Hitzeproblematik kaum erträglich», sagt sie während des Fototermins. Dann stellt sie sich für das Foto auf einen der bemalten Betonblöcke auf dem Pausenhof. Nicht auf irgendeinen: Die GB-Politikerin im grünen Mantel stellt sich bewusst auf den rot bemalten Block. «Ich bin schliesslich eine grün-rote Politikerin.»

Eingefangen im Tscharnergut, wo sich Jelena Filipovic zuhause fühlt  (Foto: David Fürst).

Wie sehr Jelena Filipovic für die Politik lebt, wird später beim Gespräch noch deutlicher: «Politik ist 24/7 mein Baby», sagt sie und bedient sich dabei nicht bloss einer Floskel. Die 33-jährige ist neben ihrem Amt als Stadträtin die Co-Präsidentin des Verkehrsclubs Schweiz (VCS) und arbeitet als Bereichsleiterin Kommunikation und Kampagnen bei der Grünen Partei Schweiz. Über all diese Tätigkeiten spricht sie mit einem Unterton, der Begeisterung und Dringlichkeit transportiert.

Dass sich Filipovic dadurch auf der nationalen Politbühne bewegt und gleichzeitig in der Lokalpolitik aktiv ist, sieht sie als Vorteil: «In der nationalen Politik kann man die Weichen stellen, in der Lokalpolitik kann man Konkretes verändern und Politik spürbar machen.»

Eine politische Existenz

Nicht immer bestimmte die Politik den beinahe gesamten Alltag von Jelena Filipovic. In ihrer Kindheit habe die Politik keine grosse Rolle gespielt. «Ich bin nicht in einer politischen Familie aufgewachsen.»

Ihre ersten Kindheitsjahre verbrachte Filipovic in einem Bergdorf in Serbien. Ihr Vater kam als Saisonnier in die Schweiz, irgendwann zog ihre Mutter nach und entschied sich dafür, die kleine Jelena und ihre Schwester mitzunehmen. Heute ist Filipovic sehr dankbar für diese Entscheidung.

Auch wenn Politik lange keine grosse Rolle spielte in ihrem Leben, so merkte sie in ihrer Jugend, dass ihre Existenz an sich politisch ist: «Als junge migrantische Frau mit Meinungen und einer linken Einstellung habe ich Erfahrungen gemacht, die mich für Politik sensibilisiert haben.» Während ihrer Zeit am Wirtschaftsgymnasium in Basel wollte sie etwa ein Schüler*innen-Parlament gründen. Ein Mitschüler meinte dazu: «Was hast du überhaupt zu melden? Du besitzt nicht einmal den Schweizer Pass!»

Das System hat mich politisiert

Solche Erfahrungen haben dazu geführt, dass Filipovic sich immer mehr positionierte. «Das System hat mich politisiert», sagt sie heute. Sie liess sich einbürgern und studierte in Zürich Politikwissenschaft. «Um zu verstehen, wie das politische System funktioniert und wie ich es von innen heraus verändern kann», erklärt Filipovic.

Im grünen Mantel bewusst auf dem rot bemalten Block (Foto: David Fürst).

Während des Studiums analysierte Filipovic die Parteilandschaft der Schweiz genauer. Dabei machte sie eine Erfahrung, die viele politisch interessierte junge Erwachsene kennen: «Ich merkte, dass ich mich von keiner der Parteien wirklich vertreten fühlte.»

Eine politische Heimat fand Jelena Filipovic als sie nach Bern zog. Erst im Klimastreik und dem feministischen Streik, dann im Grünen Bündnis. Weil sie der Grünen Partei einmalig etwas gespendet hatte, lud sie das Bündnis dazu ein, ihre Partei kennenzulernen. «Am GB gefiel mir sofort, dass es Klimapolitik nicht losgelöst von sozialen Fragen betrachtet», erinnert sich Filipovic. Dass die Partei eng mit Bewegungen wie dem feministischen Streik oder dem Klimastreik vernetzt ist, war für sie umso mehr Grund, sich beim GB zu engagieren.

Ihren grössten Erfolg feierte sie in Bern

Politisch fühlt sich Jelena Filipovic dem GB verbunden, grundsätzlich zu Hause fühlt sie sich im Tscharnergut. Seit sie nach Bern gezogen ist, hat sie immer hier im Westen Berns gelebt. An der Art und Weise, wie sie sich durchs Quartier bewegt wird klar: Filipovic fühlt sich wohl an diesem Ort, ja sie hat ihn regelrecht ins Herz geschlossen.

Wohl fühle sie sich aber in ganz Bern, betont sie. «In Bern funktioniert einiges so, wie ich mir wünsche, dass es im Rest der Schweiz funktioniert.» Die sozialen Bewegungen, die Initiativen aus den Quartieren, das alles schätzt sie ausserordentlich. «Ich habe die Vision von Caring Cities, also fürsorgliche Städte als Gegenmodell zum kapitalistischen Wirtschaftssystem.» In Bern sieht Filipovic bereits Ansätze dafür.

In Bern funktioniert einiges so, wie ich mir wünsche, dass es im Rest der Schweiz funktioniert

Es pass also ganz gut, dass die junge Politikerin hier ihren bisher grössten Erfolg feiern durfte. Am 24. November 2024 hatte Jelena Filipovic gleich doppelten Grund zum Jubeln: Auf der Grossen Schanze feierte sie das Nein zum Ausbau der Autobahnen. Als Co-Präsidentin des VCS was sie eines der Gesichter der Nein-Kampagne.

Später jubelte sie im Rathaus, als klar wurde, dass Ursina Anderegg den Sitz des GB im Gemeinderat verteidigen konnte. Dieser Sieg sei für sie noch wichtiger gewesen als der Abstimmungssieg bei den Autobahnen, sagt Filipovic, die damals noch Geschäftsführerin des Grünen Bündnis Bern arbeitete und in dieser Funktion die Wahlkampagne leitete.

Auch ein Jahr später ist sie bewegt, wenn sie an diesen Wahl- und Abstimmungssonntag zurückdenkt. «Es war einer der grossartigsten Tage. Er war emotional bewegend und hat gezeigt, dass eine geradlinige linke Politik erfolgreich ist.»

Beim Votum von Erich Hess verliess sie den Saal

Jelena Filipovic ist eine Politikerin, der es immer um die Sache geht. Ihr ist es wichtig, die Ziele zu erreichen, und zwar möglichst schnell. Im Parlament geschehe vieles langsam, doch es brauche das Zusammenspiel zwischen Strasse und Parlament, findet sie. «Bei manchen Parlamentarier*innen ist die Klimakrise etwas in den Hintergrund gerückt und gleichzeitig ist der Druck von der Strasse nicht mehr so hoch.»

«In erster Linie bin ich Feministin und Klimaaktivistin.» (Foto: David Fürst).

Im Ratsbetrieb ist Filipovic eine ehrliche und empathische Diskussionskultur wichtig: «Es darf emotional werden aber niemals respektlos.» Persönlich hat sie nur einen Vorfall erlebt, bei dem sie den Saal verlassen musste. Der damalige SVP-Stadtrat Erich Hess zog in während einer Sitzung zur Pandemiezeit dermassen über Migrant*innen her, dass es Filipovic nicht mehr aushielt. «Ich habe es nicht als Kind serbischer Migrant*innen bis hierher geschafft, um mir das anhören zu müssen.»

Es darf emotional werden aber niemals respektlos

Es nun bis ins Amt der Ratspräsidentin geschafft zu haben, macht Filipovic ein wenig stolz. Die erste Stadtratspräsidentin mit einer Migrationsgeschichte sei sie jedoch nicht, weist sie darauf hin. Dies sei die GFL-Politikerin Tania Espinoza Haller gewesen. «Ich bin aber die erste Stadtratspräsidentin aus dem Balkan.» Das zu betonen, dazu hat sie Jelena Filipovic ein ambivalentes Verhältnis. «Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der ich oft gehört habe, ich solle mich assimilieren und nicht auffallen.» Heute will sie ihre Herkunft mehr als Teil ihrer Identität annehmen. «Meine Herkunft ist ein wichtiger Teil von mir, aber sie macht mich nicht nur aus», ergänzt Filipovic, «in erster Linie bin ich Feministin und Klimaaktivistin.»

Das «Tscharni» als Schmelztiegel

In ihrem Präsidialjahr will Filipovic mit möglichst vielen unterschiedlichen Menschen in Kontakt kommen. «Ich freue mich auf all die Einladungen und darauf die vielleicht erste junge, linke Migrantin zu sein, mit der sich jemand austauscht», fügt sie hinzu.

Filipovic sagt von sich, sie sei eine Perfektionistin. Entsprechend wünscht sie sich, dass sie in einem Jahr auf eine Amtszeit zurückblicken kann, in der keine groben Pannen im Ratsbetrieb geschehen sind. «Aber ich weiss, dass ich ein super Ratsbüro im Rücken habe, das mich dabei unterstützen wird», sagt sie.

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Als nächster grosser Punkt steht die Antrittsfeier an. Diese findet in Filipovics Quartier im Westen von Bern statt. Sowohl das Catering als auch die musikalische Begleitung werden einen Teil der Community repräsentieren: «An der Feier wird Milena Patagônia singen – auf Berndeutsch und auf Jugo.»

Der Kontakt zur Musikerin ist durch Filipovics Nachbarin entstanden: Die Schriftstellerin und Musikerin Sarah Elena Müller spielt mit Patagônia zusammen in der Band Cruise Ship Misery. Das Programm der Antrittsfeier stehe für den Melting Pot, den das «Tscharni» darstelle, sagt Jelena Filipovic. Wenn die designierte Stadtratspräsidentin über das kommende Jahr spricht, wirkt ihr Blick weich und entschlossen. Ihre Vorfreude ist sichtbar gross.