Eine gefälschte Urkunde – hauchdünn, abgegriffen und mehrfach mit Klebeband geflickt – liegt vor dem rüstigen Greis, der mit Hemd, Krawatte und Gehstock zum Interview erschienen ist. Dieses Dokument ist ihm wichtig. Es hat ihm das Leben gerettet, ihn vor der Deportation ins KZ bewahrt, damals, 1943, im besetzten Polen.
Die Flucht
Erlich hat seine Geschichte, die Flucht aus dem besetzten Warschau und die anschliessende Irrfahrt durch Ostpolen nach Deutschland, in einem Buch festgehalten. («Ein Überlebender berichtet», 2005, Hartung-Gorre Verlag Konstanz). Es ist auch die Geschichte dieses lebensrettenden Geburtsscheins. Erlich kann heute noch jedes Detail daraus auf Knopfdruck abrufen.
Jede Kleinigkeit, jede Jahreszahl ist scheinbar für immer eingraviert im Gedächnis dieses Mannes. «Nein», sagt er und schüttelt resolut den Kopf, «das belastet mich nicht. Ich wüsste nicht warum. Es gehört zu meinem Leben. Und so lange ich lebe, muss ich es erzählen, damit so etwas Schreckliches nie wieder passiert.»
Er erzählt es auch noch regelmässig, in Vorträgen, als Gast in Schulklassen. Was Bronislaw Erlich in solchen Geschichtsstunden erzählt, erschüttert das Publikum jeweils mehr als jeder Film und jede Dokuserie. Davon zeugen etliche Schreiben, die der 97-jährige genauso sorgsam aufhebt wie das überlebenswichtige Dokument und die wenigen Fotos aus seiner Jugend. Er war Sohn einer jüdischen Mittelstandsfamilie in Warschau. Sein Vater war Schneider.
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Erlich erzählt seiner sorglosen Jugend mit drei Geschwistern, vom Beginn seiner Lehre als «Photochemigraph», vom Einmarsch der Deutschen Wehrmacht, seiner Flucht in den Osten, wo er die russische Besatzung erlebte, und von wo er schliesslich – «eine glückliche Fügung» – im Austausch mit einem gefangenen Soldaten nach Deutschland deportiert wurde. Dort, in Reichenbach bei Eisenach, arbeitete er von April 1943 bis zum Kriegsende als Zwangsarbeiter auf dem Hof eines rabiaten Bauern, «aber immerhin in Sicherheit», wie er anerkennt. Auf die Frage, wie es denn gewesen sei, für ihn, den Polen, für einen Deutschen zu arbeiten, meint er nur lakonisch: «Ich hätte jede Arbeit angenommen, ich hätte für den Teufel gearbeitet.»
Die Geburts- bzw. Sterbeurkunde
Auch bei der amerikanischen Befreiern arbeitete er noch ein paar Wochen lang – als Verpflegungsgehilfe. Auch davon hat er Bilder, die ihn in der Küche zeigen. Dann nimmt er ihn nochmals hervor, den hauchdünnen Ausweis, und zeigt der Besucherin die Spuren der Fälschung. Es war nämlich ursprünglich die Geburtsurkunde einer Frau. Sie hiess «Bronislawa». Das «a» am Ende des Namens löschte ein Notar mit einer Rasierklinge aus, weil er den jungen Juden vor dem Konzentrationslager retten wollte. Das Dokument ist auch ohne diese Fälschung etwas eigenartig. Es ist nämlich eigentlich eine Sterbeurkunde. Ein Pfarrer in einem kleinen Dorf hat sie mangels richtiger Formulare kurzerhand zu einer Geburtsurkunde umgeschrieben. Das handschriftlich durchgestrichene und überschriebene Wort hat möglicherweise die deutschen Soldaten bei Personenkontrollen von der effektiven Fälschung abgelenkt. Sie achteten wohl eher auf dieses durchgestrichene Wort als auf den gelöschten «a» im Namen.
Das Kriegsende
Viel gibt es noch zu erzählen. Zum Beispiel wie er Deutsch lernte (als 16-jähriger in der Berufsschule, weil das beste Lehrbuch nur auf Deutsch erhältlich war!), oder wie er nach dem Krieg seinen Bruder und seine Schwester wiederfand. Seine Eltern und der jüngste Bruder waren tot, wie sechs Millionen andere Juden in ganz Europa. Oder wie er auf den zu WC-Papier umfunktionierten Zeitungsschnitzeln im Klo des deutschen Bauern den Vormarsch der Alliierten verfolgte und die Niederlage von Hitler voraussehen konnte. Wie er aus diesen Zeitungsberichten Hoffnung schöpfte, und wie sie ihn am Leben hielten. «Ich war immer sehr gut in Geografie», meint er schelmisch, «darum wusste ich genau, wo die Fronten verliefen. Ich konnte mir ausrechnen, wie lange es noch geht, bis der Krieg zu Ende ist». Dies im Gegensatz zu seinem Meister, der sich von den verklausulierten Berichten der deutschen Wehrmacht blenden liess.
Der Schweizerpass
Auf verschlungenen Wegen kam Erlich mit seiner Familie nach dem Krieg über Polen, Israel und Deutschland in die Schweiz. Hier arbeitete er bis weit über die Pensionierung hinaus als gefragter Fachmann für Fotoreproduktion. 1976 erhielt er den Schweizerpass. Auch daran erinnert er sich, als ob es gestern gewesen wäre: «Ich konnte es tagelang kaum glauben. Immer wieder musste ich nachts aufstehen und mir dieses Dokument ansehen.»
Auch dieses Dokument enthielt selbstverständlich den Namen Bronislaw. Erlich hatte ihn unterdessen zu seinem Namen gemacht und trägt ihn seit 80 Jahren gerne. Obwohl es – wie er sagt – ja ein christlicher Name sei. Aber dieser Name hat ihm schliesslich das Leben gerettet. Er gehört zu seiner Geschichte. «Und», Bronislaw Erlich sagt es selbstbewusst, «kein anderer Jude weltweit heisst so.»