So ist Diktatur

von Christoph Reichenau 23. Februar 2022

Wie Alexander Lukaschenko im Sommer 2020 Proteste und Streiks nach seiner gefälschten Wiederwahl niederknüppeln liess, das schildert Artur Klinau in seinem neuen Buch. Es zeigt die fürchterliche Fratze einer Diktatur.

2006 ist auf Deutsch der Essay Minsk, Sonnenstadt der Träume erschienen, verfasst vom belarusischen Künstler und Architekten Artur Klinau. Dieser zeigt darin die Hauptstadt Minsk als Inbegriff und Ausdruck der Diktatur in Belarus. Sie wird seit 1994 vom selbsternannten Batka (Landesvater) Alexander Lukaschenko ausgeübt, der sich durch Wahlfälschungen an der Macht hält.

2020 waren wieder Wahlen in Belarus. Lukaschenko gewann sie am 9. August angeblich mit 80 Prozent der Stimmen, wogegen sich die realen Zustimmungswerte um die 20 bis 25 Prozent bewegt haben dürften. Das Ergebnis der Wahl wurde deshalb von zahlreichen Staaten bis heute nicht anerkannt. Gegen die Manipulationen im Vorfeld und die offensichtlichen Fälschungen während der Wahl protestierten wochenlang zehntausende Bürgerinnen und Bürger überall im Land und streikten die Belegschaften zahlreicher Betriebe. Der Diktator liess die Kundgebungen brutal niederschlagen. Tausende wurden unter unsäglichen Bedingungen inhaftiert und verurteilt. Lukaschenko blieb an der Macht.

Klinau beschreibt, was er auf der Suche nach seiner Tochter erlebt.

Jetzt schrieb Artur Klinau ein zweites Buch. Seit kurzem ist es auf Deutsch erhältlich. Sein Titel: Acht Tage Revolution, ein dokumentarisches Journal aus Minsk. Klinau beschreibt Tag für Tag, was er erlebt auf der Suche nach seiner Tochter Marta. Marta ist vor einem Wahllokal festgenommen worden als sie mit anderen zählte, wie viele Menschen hineingingen und herauskamen, um Betrug belegen zu können. Marta landet im Gefängnis, wird verurteilt wegen «Behinderung der Staatsgewalt» sowie «Widersetzung gegen die Verhaftung», kommt jedoch vorzeitig frei, weil die Zellen für Menschen gebraucht werden, die «schwerere» Strafen zu verbüssen haben. Heute lebt Marta in Kiew in der Ukraine, auch nicht gerade ein sicherer Ort.

Vier Passagen aus dem Buch

Ich kann dem Buch nicht gerecht werden, in dem ich versuche, es zusammenzufassen. Es ist zwar streng strukturiert, doch innerhalb der einzelnen Kapitel gibt es sowohl fast protokollarische Teile als auch weiter schweifende Überlegungen zur Geschichte von Belarus und zum Verhältnis mit Russland. Deshalb zitiere ich vier Passagen, die mir wesentlich scheinen.

«Während Dsmitry im Krankenhaus behandelt wurde, konnte er beobachten, wie im Zehnminutentakt neue Verletzte gebracht wurden. Bei ihm wurden eine Gehirnerschütterung, angebrochene Rippen und zahlreiche Schürfwunden und Hämatome diagnostiziert. Sie hatten ihn getreten und mit Schlagstöcken und Schilden auf ihn eingeschlagen. Irgendwann hatte er gedacht, sie würden ihn umbringen, in Gedanken hatte er sich schon von seiner Familie verabschiedet.»

«Die ‚Sturmhauben‘ schlugen gefesselte Menschen, die keinerlei Widerstand leisteten. Sie prügelten aus purem Sadismus, bei jeder Kleinigkeit, einer blossen Äusserung oder Kopfbewegung. Sie beschimpften die Menschen auf unflätigste Weise und brüllten: ‚Den Wandel wollt ihr? Da habt ihr euren Wandel! Wer seid ihr denn, dass ihr glaubt, ihr könnt hier irgendetwas fordern?‘»

Einer der Entkommenen berichtete, dass es in der völlig überfüllten Zelle so heiss war, dass das Wasser von den Wänden tropfte.

«Dem einen trieben sie Nadeln unter die Nägel, dem anderen steckten sie einen Knüppel in den Anus. Aber die Linie war überall die gleiche. Schläge bei der Verhaftung, Schläge auf der Fahrt zum Polizeirevier, Schläge beim Einsteigen und Schläge beim Aussteigen, Schläge auf der Wache und dann alle wie Vieh in eine Zelle gepfercht. Zwei Tage Erniedrigung beim Warten auf den Prozess, Atemnot wegen der Enge, kein Essen, kaum Wasser, unter katastrophalen hygienischen Bedingungen mitten in einer Pandemie. (…) Die Gerichtsverhandlungen finden per Skype statt. Das Regime macht sich keine Mühe mehr, die Gefangenen in den Gerichtssaal zu bringen. Angeblich wegen der Pandemie. Aber dass fünfzig Leute in eine kleine Zelle gepfercht werden, ist ihnen egal.»

«Es waren Szenen aus der Hölle. Bilder, wie Hieronymus Bosch sie sich für sein Jüngstes Gericht nur ausgedacht hatte. Einer der Entkommenen berichtete, dass es in der völlig überfüllten Zelle so heiss war, dass das Wasser von den Wänden tropfte. Die Leute drängten sich um jede Ritze, aus der ein kleiner Luftzug kam. Als sich jemand beschwerte, drohte der Aufseher, Pfefferspray in die Zelle zu sprühen. In der Zelle nebenan taten sie genau dies. Mehrere Stunden rangen die Menschen dort um Luft.»

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«Natürlich war das nicht Chile im Jahr’73, nicht Moskau 1937 und nicht Nazideutschland. Aber es war eine besonders grausame, in Realität verwandelte Kafka-Welt.»

Acht Tage Revolution ist ein fürchterliches Buch. Artur Klinau, der jetzt in Frankfurt a.M. lebt, hat getreulich notiert, was er selbst gesehen und zuverlässig in Erfahrung gebracht hat über tausende von Fällen brutaler Gewalt, die von der Polizei und von Spezialkräften gegen die teilweise wahllos attackierten Belarusinnen und Belarusen ausgeübt worden ist.

Und wir hier?

Was geht uns das an, hier in Bern? Die Menschenrechte gelten überall. Wo immer sie gebrochen werden, trifft dies auch uns. Dass sie in sehr vielen Ländern der Welt das Papier nicht wert sind, auf dem sie hoch und heilig beschworen werden, macht sie fragil und verteidigungswert. Und dass die Verletzung elementarer Rechte fast immer durch sogenannte Sicherheitskräfte erfolgt, die vom Volk bezahlte Waffen gegen das Volk richten, macht uns auch hier traurig und wütend, weil wir gegen die dortigen Gewaltherrscher und Diktatoren direkt nichts ausrichten können.

Ein Blick in Artur Klinaus Buch genügt,  um zu merken, wie zynisch Aussagen über eine angebliche Diktatur hierzulande sind.

Das Buch betrifft uns hier umso mehr als in jenen acht Tagen und bis heute die SVP, die zwei Bundesräte stellt, und viele weitere laute Massnahmenkritikerinnen und -kritiker die Landesregierung insgesamt und den Gesundheitsminister persönlich bezichtigten, eine Diktatur errichtet zu haben, die Menschenrechte in nicht hinnehmbarer Weise einzuschränken und ein autoritäres Regime zu führen. Ein Blick in Artur Klinaus Buch genügt, um diese ungeheuerliche Verirrung zu entdecken. Und um zu merken, wie zynisch solche Aussagen sind – und wie sehr sie jene Menschen verletzen müssen, die tatsächlich Opfer diktatorischer Gewalt sind.

Artur Klinau: Acht Tage Revolution. Ein dokumentarisches Journal aus Minsk, aus dem Russischen von Volker Weichsel und Thomas Weiler, 265 Seiten, edition suhrkamp 2772, Berlin 2021