«Sind wir gar nicht so frei?»

von Jessica Allemann 17. November 2012

Sein erster Animationsfilm war «eine Spielerei», aus der Ernst wurde, und der an drei Festivals vertreten war. Das zweite Projekt soll Illusionen schaffen, um sie gleich wieder zu zerstören. Filmemacher Philipp Bürge fragt sich darin, ob wir wirklich so frei sind, wie wir glauben.

Der Künstler sitzt vor seiner Skizze. Die Figur auf dem Papier erwacht plötzlich zum Leben, steigt vom Papier auf, ergreift die Flucht und entpuppt sich auf einmal als zweidimensionale Mini-Version ihres Erschaffers, als «Flachmann».

So soll der neue Film von Philipp Bürge und damit ein verwirrendes Spiel mit doppelten Identitäten, Sinneskrisen und verschwimmenden Grenzen zwischen Schöpfer und Schöpfung beginnen. Die phantastische Idee entstammt der realen Lebenswelt des Illustrators und Werbers: «Das Zeichnen ist ein Kampf. Ich will meine Idee umsetzen, aber die Zeichnung hat ihren eigenen Willen. Meistens gewinne ich nicht, und dem Resultat liegt ein Kompromiss zugrunde.»

Ein Kompromiss führt denn auch im Film die Figur und den Zeichner wieder zusammen. Nach einer Verfolgungsjagd quer durchs Atelier lässt sich der «Flachmann» wieder aufs Papier bannen – allerdings nur zusammen mit seinem weiblichen Pendant, das er in einem Skizzenstapel des Zeichners gefunden hat. «Der Zeichner ist dann zufrieden, weil er die Figur wenigstens wieder auf dem Papier hat», sagt Bürge, «nur um danach vom Über-Ich auf die Schulter geklopft zu werden und zu merken, dass er selber auch nur die Kreation eines anderen ist.»

Schöpfung der Schöpfung der Schöpfung …

Ebene um Ebene wird aufgetan, der «Flachmann» flüchtet vor seinem Schöpfer, der wiederum die Schöpfung eines anderen ist, der möglicherweise selber auch nur ein ferngesteuertes Wesen ist …

«Sind wir am Ende gar nicht so frei, wie wir glauben, sondern gesteuert durch Medien, Werbung und geschicktes Marketing?»

Philipp Bürge, Geschäftsführer Küchentisch Films.

Die Frage nach dem eigenen Willen ist zentral und erhält in einer Zeit, in der Individualismus und Originalität an oberster Stelle zu stehen scheinen, besonderes Gewicht: Jeder versteht sich als unabhängiger Macher, jede als selbstständige Schöpferin der eigenen Realität. «Aber sind wir am Ende gar nicht so frei, wie wir glauben, sondern gesteuert durch Medien, Werbung und geschicktes Marketing?», fragt Bürge, der sich selber auch immer wieder mit den Grenzen des freien Handelns konfrontiert sieht: In seinem Beruf als Werber bringt er die Erwartungen seiner Kunden mit den eigenen Ideen in Einklang, seine Kunst entsteht in ständiger Auseinandersetzung zwischen seinen Vorstellungen und dem eigenen Willen des entstehenden Werks.

Mit Bleistift und Kaffee auf Papier gemalt

Mit zweidimensionalen, mit Bleistift und Kaffee gezeichneten Papierfiguren, ausgeschnittenen Figuren von Fotos und mit «dreidimensionalen» Darstellern sollen die verschiedenen Realitätsebenen dargestellt werden. Mittels Stop-Motion-Verfahrens werden die einzelnen abfotografierten Bilder aneinandergereiht und zu einem bewegten Bild montiert. In geschätzten 1250 Arbeitsstunden sollen 7000 Einzelbilder entstehen, die zusammen einen 5-minütigen Film ergeben werden.

Ein Film, dem man seine Machart ansieht. Und das sei auch gut so, er wolle schliesslich mit offenen Karten spielen. Die «grossen Filme» seien technisch oft so perfekt gemacht, dass man mehr über die Machart als über die Geschichte nachdenke. Aber auch er schafft Illusionen. So ist sein Film genau genommen kein Film, sondern eben eine Aneinanderreihung von Fotografien. Gleichzeitig wird die Illusion der «wahren Geschichte» oder des «echten Darstellers in Abgrenzung zur geschaffenen Figur» zerstört. Die einfache Machart des Films hält dem Publikum die Tatsache vor Augen, dass es sich bei selbigem ja auch um nichts anderes als um eine Kreation handelt.

Filme als Projektionsfläche

«Ob das, was ich zeichne, male oder filme nun Kunst ist oder nicht, ist mir im Endeffekt Wurst», sagt Bürge. «Im besten Fall ist es Kunsthandwerk, und das ist schon etwas, das nicht jeder kann.» Das bescheidene Auftreten wirkt nicht aufgesetzt, sondern zieht sich durch das ganze Gespräch hindurch: So widerstrebt es Bürge zum Beispiel auch zutiefst, seinen Film in alle möglichen Bedeutungsebenen zu sezieren und womöglich auch noch psychologisch-motivierte Bezüge zu ihm als Autor und Macher herzustellen. Seine Filme sollen unterhalten und allenfalls eine Projektionsfläche bieten, auf welcher jeder Zuschauer und jede Zuschauerin seine oder ihre eigenen Bedeutungen sehen kann. «Sollen einige einen Bezug zu Pygmalion und Galatea, andere die biblische Schöpfungsgeschichte thematisiert sehen, auch ich habe meinen eigenen Bezug zur Geschichte des Films.» Nur aufdrängen würde er dem Publikum seine Perspektive nie und nimmer.

«Philipp mit dem Malerabdeckband»

Bürges erster Film begann mit der Spielerei mit seiner Digitalkamera. Man kennt es: Das Hin- und Herzappen zwischen zwei Bildern scheint den kurz aufeinander fotografierten Objekten Leben einzuhauchen. «Eine Bildfolge von nur wenigen Bildern erzählt schnell Mal eine Geschichte», sagt Bürge, «ich wollte es ausprobieren».

«Eine Bildfolge von nur wenigen Bildern erzählt schnell Mal eine Geschichte.»

Philipp Bürge, Geschäftsführer Küchentisch Films.

Gesagt, geklebt: Während 14 Monaten schuf Bürge mittels 2300 Meter Malerabdeckband «Chläbi-Bilder», wie er sie selber nennt, auf dem Boden seines Ateliers, und liess sie in einem Stop-Motion-Animationsfilm lebendig werden. «Angefangen hat es mit Lust, Freude und Neugierde, irgendwann konnte ich nicht mehr zurück und es wurde richtige Knochenarbeit und zuweilen fast zum Zwang, nach Feierabend noch eine Sekunde Film zu kleben», erinnert sich Bürge an seine «Chläbi-Episode». Sein erster Film wurde denn auch gleich in das Programm von drei Filmfestivals aufgenommen. Seine Reise an das Filmfestival Münster sei ihm teilweise selber wie ein Film vorgekommen. Da sass er nun, Schulter an Schulter mit Filmschulabsolventen und etablierten Filmemacherinnen, «ein Spinner, der am Feierabend Bilder am Boden festklebt», wie er sagt. Man habe ihn als «Philipp mit dem Malerabdeckband» angesprochen und ihn für seine Ausdauer und das Ergebnis, den arbeitsaufwendigen Klebebandfilm, gelobt.

Nach dem Film ist vor dem Film

Des erfahrenen Ruhms zum Trotz scheint nicht dieser, sondern vielmehr die blanke Freude am Spiel mit dem Medium Film die Triebfeder für eine weitere, aufwendige Produktion zu sein. Natürlich habe er die Aufmerksamkeit, die ihm aufgrund seines ersten Films zuteil wurde, genossen, aber in der Regel verliere er nach der Fertigstellung eines Projekts das Interesse daran: «Dann ist die Auseinandersetzung vorbei. Es ist gegessen.»