Sichere Träume für Berner Jugendliche

von Maurin Baumann & David Fürst 27. Mai 2022

Heute eröffnet die Jugendnotschlafstelle Pluto in Bern. Für die Trägerschaft endet eine lange und komplexe Planungsphase. Nun steht die Feuerprobe der Praxis bevor. Wir haben Pluto besucht und über Meilensteine und potenzielle Schwierigkeiten gesprochen.

Pluto galt lange Zeit als kleinster und äusserster Planet im Sonnensystem – bis ihm 2006 der Planetenstatus aberkannt wurde. Pluto; das verstossene Kind; der Heimatlose unter den Himmelskörpern.

Es dürfte wohl kein Zufall sein, dass sich die heute eröffnete Notschlafstelle für junge Menschen in Bern mit dem Namen des berühmten Zwergplaneten schmückt. Pluto bietet künftig jede Nacht sechs bis sieben Schlafplätze für Menschen in prekären Wohn- und Lebenssituationen. Die Altersspanne liegt zwischen 14 und 23 Jahren.

Wir setzen uns an den Tisch im hellen Wohnzimmer an der Studerstrasse 44. Das direkt am Viererfeld angrenzende Haus, welches die Notschlafstelle bezogen hat, gehört der Stadt Bern. Es riecht nach frisch getrockneter Farbe und neuen Möbeln. «Es war ein langer Weg bis zu dieser Eröffnung», sagt Robert Sans, der das Projekt seit 2021 koordiniert.

 

Fachpersonen im Jugend- und Obdachlosenbereich hätten vor gut drei Jahren festgestellt, dass ein solches Angebot in der Region Bern fehle. Am Eröffnungsapéro der Jugendnotschlafstelle vom 19. Mai, erzählen Jugendarbeiter*innen des Trägervereins für die offene Jugendarbeit der Stadt Bern (toj), dass sie des Öfteren mit Jugendlichen in Kontakt kämen, die keine sichere Übernachtungsmöglichkeit hätten. Teils würden die Jugendlichen auch fragen, ob sie in Jugendtreffs übernachten dürften.

Der toj schreibt auf Anfrage: «Eine ‹Flucht› vor Gewalt benötigt enorme Kraft und der ‹Papierkrieg› kann hier noch zusätzlich abschrecken». Dass Pluto junge Menschen ohne grossen administrativen Aufwand aufnehmen kann, sei ein grosser Fortschritt im sozialen Versorgungssystem für Jugendliche.

Die städtischen Stellen Pinto und Obdachlosenhilfe können einen Bedarf nicht bestätigen, vermeldet Alex Haller, Leiter Familie & Quartier (ehemals Jugendamt) Stadt Bern, auf Anfrage. «Dieser kann trotzdem bestehen», ergänzt er.  Er könne aber noch nicht quantifiziert werden. Die Jugendnotschlafstelle Pluto ist als Pilotprojekt nicht zuletzt dafür da, diesen fraglichen Bedarf über drei Jahre festzustellen.

Vom ersten Treffen zur ersten Schicht

Erste Vernetzungstreffen von Fachpersonen der Sozialen Arbeit führten zur Gründung des Vereins «Rêves sûrs – sichere Träume», welcher mit der Notschlafstelle Pluto nun diese Versorgungslücke schliessen will. Der Vorstand leistete die Arbeit auf ehrenamtlicher Basis. Er begleitet das Projekt bis heute. Neben einem vergleichbaren Projekt in Zürich ist Pluto erst die zweite Jugendnotschlafstelle der Schweiz. Das Haupt-Augenmerk liegt hierbei auf einem kurzfristig und niederschwellig nutzbaren Angebot, das für die Jugendlichen komplett kostenlos ist.

Der Betrieb wird durch acht Angestellte gesichert. Jede Nacht seien im Pluto jeweils zwei Personen vor Ort, mindestens eine mit Ausbildung im Bereich der sozialen Arbeit.

Die Schichten beginnen, wenn die meisten anderen Menschen Feierabend machen, um 17 Uhr. «Bis 22 Uhr 30 empfangen wir unsere Nutzer*innen», erklärt Nicole Maassen, eine der angestellten Sozialarbeiter*innen. Falls jemand aber später komme, seien die Türen nicht verschlossen, der Pikettdienst laufe die ganze Nacht. Inbegriffen ist zudem eine warme Mahlzeit sowie ein Frühsück.

Für Jugendliche in prekären Situationen fehlten bislang niederschwellige Übernachtungsmöglichkeiten: Pluto will das ändern (Foto: David Fürst).

Am Morgen werden die Gäste bereits um 7 Uhr geweckt. Danach gibt es noch bis 11 Uhr vormittags die Möglichkeit, sozialarbeiterische Beratungen in Anspruch zu nehmen. «Wir müssen da streng sein, 7 Uhr mag früh sein, aber wir können mit unseren Ressourcen den Jugendlichen keine Tagesbetreuung anbieten», so Sans.

Crowdfunding als Schlüsselmoment

Stichwort Ressourcen: Miete und Löhne kosten Geld. Die Finanzierung des Projekts war eine Monsteraufgabe. Und sie sei noch nicht abgeschlossen, sagt Sans. Noch immer sorge dieses Thema für latente Unsicherheiten. Aber: «Das Crowdfunding war ein Schlüsselmoment.» Über 70’000 Franken Spendeneinnahmen konnte der Verein vergangenen Dezember verbuchen.

Pluto wird den Sozialdiensten Tagespauschalen für Übernachtungen in Rechnung stellen. Ob diese bezahlen werden?

Das habe auch gezeigt, dass das Projekt in der Öffentlichkeit als relevant wahrgenommen werde. Dies wiederum sei ein starkes Argument für Stiftungen und andere Institutionen gewesen, die daraufhin die Notschlafstelle finanziell unterstützten hätten. In den Medien erzeugte der Verein grosse Resonanz und positive Reaktionen von bekannten Persönlichkeiten aus Berner Politik-, Kultur- und Sozialbereichen. Lea Bill, Franziska Teuscher, Rahel Müller und Tommy Vercetti sind nur einige davon.

Mit Crowdfunding und Fundraising ist es jedoch nicht getan. Für Sans ist klar: «Wir müssen uns auch von der öffentlichen Hand tragen lassen». Eine finanzielle Unterstützung der Stadt Bern im Rahmen der institutionellen Sozialhilfe müsse durch den Kanton bewilligt werden, sagt Haller von Familie & Quartier Bern. Dies könne aber erst geschehen, wenn der Bedarf «ausgewiesen» sei. Also etwas, dass Pluto zuerst selber ‘beweisen’ muss.

Zusätzlich wird Pluto den Sozialdiensten Tagespauschalen für Übernachtungen in Rechnung stellen. Ob diese bezahlen werden? Die Stadt will sich hier noch nicht festlegen: «Der Sozialdienst hat bis dato keine Abmachungen getroffen», sagt Alex Haller. Gesuche zur Kostenübernahme würden jeweils einzeln geprüft. Eine Übernahme sei aber nicht ausgeschlossen.

Wird vom Rêves Sûrs-Vorstand verdankt: Mitarbeiter in spe und Projektkoordinator der Jugendnotschlafstelle Pluto(Foto: David Fürst).

Für eine solche Rechnung besteht eigentlich keine rechtliche Grundlage, da Pluto im Sinne der Niederschwelligkeit auf den Antrag einer vorgängigen Kostengutsprache verzichtet. Trotzdem hofft Sans, dass diese Rechnungen bezahlt werden. «Wir müssen am gleichen Strang ziehen, um die Krisenbewältigung für Jugendliche in Notlagen meistern zu können.» Zudem wisse man aus Zürich, dass dort der Sozialdienst die berechnete Tagespauschale der Jugendnotschlafstelle bezahle.

Rechtliche Rahmenbedingungen

Doch nicht nur die Finanzierung der Jugendnotschlafstelle war und ist herausfordernd. Auch der rechtliche Rahmen gestaltet sich kompliziert. Denn bei minderjährigen Nutzer*innen ist Pluto gemäss Aufenthaltsbestimmungsrecht verpflichtet, die Erziehungsberechtigten zu informieren. «Es ist wichtig, gegenüber unseren Nutzer*innen diesbezüglich transparent zu sein und ihnen zu sagen, dass wir diesen Rahmenbedingungen entsprechen müssen», sagt Sans.

Fallbedingt könne jedoch individuell abgewogen werden, ob mit einer Meldung eine befristete Zeit zugewartet werden kann oder sogar muss. Der Schutz der Nutzer*innen gehe jeweils vor, erklärt Sans. Wenn jemand bei einer allfälligen nächtlichen Meldung sofort wieder auf die Strasse und damit in unsichere Verhältnisse gehen würde, könne eine Kontaktaufnahme auch erst am nächsten Morgen geschehen. Hier bietet das Pluto-Team eine vermittelnde Rolle zwischen Erziehungsberechtigten und übernachtenden Jugendlichen.

Auslastung und Erreichbarkeit

Wie viele Jugendliche das Angebot nutzen werden, ist schwierig abzuschätzen. «Auf Social Media haben wir schon zwei Anfragen für Übernachtungen von Jugendlichen erhalten», sagt Nicole Maassen. Sie geht davon aus, dass das Angebot bereits in der ersten Nacht genutzt wird. Bezüglich Auslastung kann auch ein Blick nach Zürich hilfreich sein. Die Notschlafstelle Nemo, die bereits seit 15 Jahren besteht, verzeichnete letztes Jahr im Schnitt knapp fünf Übernachtungen pro Nacht.

Wir möchten den jungen Menschen zeigen: ‘Hey, hier kannst du hinkommen, hier hast du einen Schlafplatz, hier bekommst du eine Mahlzeit’.

Laut Maassen beschäftige sich das Team intensiv damit, potenzielle Nutzer*innen zu erreichen. Dazu gehören etwa Kanäle wie Instagram und TikTok. «Wir möchten den jungen Menschen zeigen: ‘Hey, hier kannst du hinkommen, hier hast du einen Schlafplatz, hier bekommst du eine Mahlzeit’.» Maximal ist eine jeweils nächtliche Aufenthaltsdauer von drei Monaten festgesetzt. Bei grosser Auslastung müsse der Schutzbedarf abgewogen werden – eine weitere Herausforderung.

Das Band ist zerschnitten: Die Jugendnotschlafstelle Pluto ist eröffnet (Foto: David Fürst).

Der Zugänglichkeit nicht zuträglich könnte der rund 20-minütige Fussweg von der Innenstadt zur Notschlafstelle sein. Der etwas abgelegenere und somit eher ruhige Standort der Jugendnotschlafstelle bietet aber auch Vorteile. «Die Jugendlichen haben hier eine stille und sichere Atmosphäre, was in stressigen Situationen sehr wohltuend sein kann» so Sans.

Tanz durch die Institutionen

Wenn Jugendliche «auf Kurve sind», das heisst, wenn sie ausreissen – etwa aus einem Heim, könnte die Jugendnotschlafstelle eine attraktive Übernachtungsmöglichkeit sein. «Für Pluto ist dies sicher eine Herausforderung, gleichzeitig aber auch eine Chance, da Nutzer*innen bei uns Schutz und Sicherheit finden, zur Ruhe kommen können und dann von uns aus eine Entscheidung treffen können, was sie weiter machen möchten», so die Sozialarbeiterin Maassen. Sie sieht das Angebot von Pluto als schützend und ergänzend – und als anwaltschaftlich für die Jugendlichen. Die Rolle der Sozialarbeitenden sei es, in solchen Fällen eine vermittelnde Position einzunehmen.

Klar ist, dass Pluto kein Ort sein soll, an dem Jugendliche per se mit der Polizei rechnen müssen.

Die Kantonspolizei Bern verweist aber auf Anfrage auf die Meldepflicht bei ausgeschriebenen Jugendlichen. «Bei ausgeschriebenen Jugendlichen, die sich in der Jugendnotschlafstelle Pluto aufhalten könnten, ist eine Kontaktaufnahme mit der Institution vorgesehen, um die Situation zu klären», schreibt ein Mediensprecher.

Laut Sans sind ausserdem Vernetzungstreffen mit der Kantonspolizei geplant. Klar sei, dass Pluto kein Ort sein solle, an dem Jugendliche per se mit der Polizei rechnen müssen. Auch hier hilft ein Blick zum Pionier-Projekt Nemo in Zürich: «Unseren Informationen zufolge sind Polizeieinsätze innerhalb der Notschlafstelle äusserste Seltenheit», so Sans.

Hier hinter dem Viererfeld ist es angenehm ruhig. Sicherlich nicht schlecht für Jugendliche in prekären Situationen (Foto: David Fürst).

Bei Kenntnis von Minderjährigen, die sich im Pluto aufhalten und die durch die kantonale Kinder- und Erwachsenschutzbehörde (KESB) in Institutionen oder Pflegefamilie platziert wurden, verweist die KESB auf Anfrage ebenfalls auf eine individuelle Prüfung: Darüber, ob «aus Kindswohlgründen» eine Rückführung oder «ein weiterer Verbleib in der Notschlafstelle angezeigt ist».

Gleichwohl wird sich erst in der Praxis zeigen, wie die genaue Zusammenarbeit mit den Behörden und anderen Institutionen aussieht. Ein erster Grundstein dafür wurde am Eröffnungsapéro gelegt, wo sich diverse Akteur*innen vor Ort ausgetauscht haben. Nun gilt es für Pluto, die lange Planungsphase im laufenden Betrieb umzusetzen und gegebenenfalls anzupassen.

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