Noch rauscht der Regen in ihrem Geäst, Windböen wiegen ihren Wipfel hin und her. Bald ist sie weg. Für mich stand sie schon immer da. Sie zählt erst hundert Jahre oder wenig mehr, dreihundert könnten es werden. Eine Artverwandte, die in der Nähe von Eis und Schnee lebt soll mehr als 4000Jahre zählen.
Für mich stand sie schon immer da. Zusammen mit einer zweiten Kiefer bilden sie den Abschluss des nördlichen Gartens. Die eine stolz und senkrecht nach oben strebend, bis der Blitz sie in den Wipfel traf. Eine Narbe. Fast in einem rechten Winkel wächst sie weiter. Die andere formte schon in frühen Jahren aus mehreren Stämmen ein umfangreiches Ganzes. Weit verzweigt wuchs sie aufwärts und bildete ein Schutzdach über Haus, Garten, Tier und Menschen, die da ein und aus gingen.
Sie war da – noch jung an Jahren, – als das Neugeborene in sein zukünftiges Zuhause kam. Sie war da als der, der sie pflanzte, Füsse voran aus dem Haus getragen wurde, als die Grossmutter ihr Nähzeug zusammenlegte und vom Schlag getroffen in die Zimmerecke flog. Sie diente den ersten Kletterversuchen in der nächsten Generation, sah, wie nahe einander menschliches Glück und Leid sind. Sie hatte Teil an lauten und stillen Festen, an Gesprächen über Hühnerhaltung, die Gründung der SEG, über Bürgschaften und Tanz. Während des Kriegs dann wechselten die Diskussionen von der Seidenbandweberei zur Entwicklung von Tarnnetzen. In jüngerer Zeit wurden Schauspiel, Gestaltung, Werbung und Kunst zu Themen, um wieder das Wiehern der Pferde, und die Kinder beim Spielen zu hören. Die Kiefer wurde gross, kühn in der Gestalt breitet sie schützend ihre Äste über das Leben unter ihr. Hoch oben kreist der Milan.
Sie ist krank. Morgen wird sie gefällt. Noch einmal scheint der Mond blass zwischen ihren Ästen durch, Wer wird sich an sie erinnern? Und wer wird sich ohne sie an früheres Leben erinnern?
Jetzt ist sie weg – nein, der unterste Teil des Stammes bleibt den Vögeln und Insekten, bleibt der Erinnerung erhalten.