Sexualstrafrecht – Alte Normen für neue Gesetze

von David Fürst 6. Juli 2022

Es gibt viele Mythen über Sexualität, die fest in unserer Gesellschaft verwurzelt sind. Besonders gravierend ist es aber, dass sich diese in unserem Sexualstrafrecht wiederfinden. Veraltete Vorstellungen über Geschlecht finden so eine machtvolle Anwendung, die über Recht und Unrecht entscheidet.

Der Ständerat diskutiert diesen Sommer über die Revision des Sexualstrafrechts. Die Initiant*innen der breit abgestützten Kampagne «nur Ja heisst Ja» fordern: «Jede sexuelle Handlung ohne Zustimmung ist als Vergewaltigung (Art. 190) anzuerkennen und zwar unabhängig von Geschlecht und Körper der betroffenen Person.» Nur so könne das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung geschützt werden.

Aber die Kommission für Rechtsfragen des Ständerats liess bereits im Februar 2022 in einer Stellungnahme verlauten, dass sie sich für eine «Nein heisst Nein-Lösung» ausspreche. Sie schreibt zu dem von ihr vorgelegten Entwurf für ein revidiertes Sexualstrafrecht:

«Von den Tatbeständen erfasst werden sexuelle Handlungen, welche der Täter oder die Täterin am Opfer vornimmt oder von ihm vornehmen lässt und sich dabei über den entgegenstehenden Willen des Opfers hinwegsetzt (vorsätzlich oder eventualvorsätzlich). Dieser Wille kann vom Opfer verbal oder nonverbal geäussert werden. Neu begeht eine Vergewaltigung, wer gegen den Willen einer Person den Beischlaf oder eine beischlafsähnliche Handlung, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden ist, vornimmt oder vornehmen lässt.»

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Dieser Entwurf sieht eine Erweiterung des bisherigen Rechts vor: Neu können auch cis-Männer betroffene Person einer Vergewaltigung sein und neu kann eine betroffene Person nun auch nonverbal ausdrücken, dass sie eine sexuelle Handlung nicht will. Nach wie vor müssen sich aber Personen gegen eine sexuelle Handlung aussprechen, wenn diese ihrem Willen widerspricht.

Um zu verstehen, wieso das Sexualstrafrecht nicht schon längst geändert wurde und wieso auch der aktuelle Gegenvorschlag des Ständerats immer noch keine «nur Ja heisst Ja Lösung» möchte, müssen wir die Mythen untersuchen, die unserer gesellschaftlichen Vorstellung von Sexualität unterliegen. Es ist gravierend, dass sich diese veralteten Vorstellungen immer noch in unserem Sexualstrafrecht wiederfinden und so über Recht und Unrecht entscheiden können. Umso wichtiger, sie einmal genau unter die Lupe zu nehmen und zu dekonstruieren.

Mythos Falschbeschuldigung – Rachsüchtige Frau

Ein Mythos, der mit dem Prozess um Johnny Depp und Amber Heard wieder auftaucht, ist jener der rachsüchtigen Frau. Die Vorstellung: Die ungeliebte Ex will Vergeltung und rächt sich an ihrem ehemaligen Partner mit dem Vorwurf sexualisierter Gewalt. In den Kommentarspalten von Social Media, wird Amber Heard weit häufiger beleidigt und ihre Aussagen werden infrage gestellt als die von Johnny Depp.

Nur explizite Zustimmung soll als einvernehmlich gelten, fordern Initiant*innen. (Illustration: David Fürst)

Betroffenen Personen von sexualisierter Gewalt wird oft nicht geglaubt und dies aufgrund ihres Geschlechtes. Der Glaube, der dahintersteckt, ist, dass Frauen Männer verleugnen und falsch beschuldigen, um so an Macht zu gelangen. Hier ein Beispiel aus der NZZ Kolumne von Brigit Schmid: «Eine gekränkte und enttäuschte Frau kennt viele Mittel, es dem Mann heimzuzahlen. Weil sie im gegenwärtigen Diskurs eher als Opfer gilt, kann sie mit Verständnis rechnen»

Statistisch ist dieses gesellschaftliche Vorurteil schnell widerlegt. Erstens werden 85,7% der Fälle von sexualisierter Gewalt laut einer Studie aus Deutschland nicht polizeilich gemeldet und zweitens, sind dann davon ca. 3% Falschbeschuldigungen. Alles in allem ist es für Männer also wahrscheinlicher Bundesrat zu werden, als falsch beschuldigt. Trotz der so geringen Wahrscheinlichkeit von Falschbeschuldigungen, werden Betroffene von sexualisierter Gewalt immer wieder mit diesem Mythos konfrontiert.

Mythos passive Frau

Die vermeintliche Passivität der Frau in romantischen und sexuellen Begegnungen ist in der westlichen Kultur verwurzelt. So schreibt der römische Dichter Ovid schon 43 vor Christus: «Vielleicht wird sie dagegen ankämpfen, und ‹Unverschämter› sagen; sie wird aber im Kampf besiegt werden wollen.» Die Idee, dass die Frau vom Mann in einem Kampf besiegt werden will, ist bis heute in unseren Vorstellungen über Sexualität stark präsent und legt so den Grundstein für eine Kultur, in der sexualisierte Gewalt normal ist.

Knapp 2000 Jahre nach Ovid wird diese misogyne Vorstellung immer noch von der Popkultur reproduziert. Besonders stark ist die Vorstellung auch in der Pick-up-Community. Pick-up-Artists, wie sie sich selbst bezeichnen, sind selbsternannte Flirt-Coachs, die mit ihren oft manipulativen Techniken versuchen, Frauen zu verführen. Hier ein Auszug aus einem öffentlichen Pick-up-Forum, in dem ein Pick-up-Artist erklärt, was hinter dem Widerstand beziehungweise einem Nein auf einen Flirtversuch, stecken könnte: «Sie wird ständig angesprochen und will wissen, wie ernst du es meinst und / oder wie dominant du bist. Ob du wirklich ein Mann bist.»

Wir können Verantwortung übernehmen und Sexualität nach unseren Wünschen gestalten.

Auch in der populären Kultur wird dieses Frauenbild zementiert. In Disneyfilmen wie Dornröschen wird die Prinzessin ohne Einwilligung geküsst und im Zeichentrickfilm Aladin will Jafar die Prinzessin Yasmin heiraten und sperrt sie gegen ihren Willen ein. Mit diesen Eroberungsphantasien, die eng mit sexualisierter Gewalt verknüpft sind, werden so schon Kinder konfrontiert.

Mythos Trieb

Die Theorie vom Trieb ist eine Idee, die in der Sexualität sehr wirkmächtig ist und der Sigmund Freud einen psychoanalytischen Unterbau verpasst hat. Dieser Theorie zufolge verfügen Männer über einen starken sexuellen Trieb. Im Gegenzug dazu schreibt Freud den Frauen einen passiven Trieb zu.
Dadurch definiert sich die Sexualität der Frau über das Dominiert-Werden und die des Mannes über das Dominieren. Diese Denkweisen und Konstrukte von Sexualität kommen besonders dann zum Zug, wenn sexualisierte Gewalt von Männern dadurch gerechtfertigt wird, dass es in ihrer Natur liege.
Sexualität ist sozial geformt

Zeitgenössische Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen halten diesen alten Vorstellungen entgegen, dass Sexualität sozial geformt und gestaltbar ist. Die queer-feministische Sexualpädagogin und Aktivistin Ruby Rare schreibt: «It’s time to move on from thinking of sex as a drive. We are drawn to sex because it is fun and enjoyable, rather than being biologically driven to it to keep us alive in a short term – like we are with eating, hydrating and sleeping.»

Ruby Rare verweist darauf, dass wir Sexualität leben, weil es Spass macht und wir nicht nur biologisch determinierte Wesen sind, die von unserem Trieb gesteuert sind. Wir können Verantwortung übernehmen und Sexualität nach unseren Wünschen gestalten.

Mythos Sexualität = Kinder machen

Die Idee, dass Sex lediglich der Fortpflanzung dient, ist weitverbreitet und wird auch in der Schule in der Sexualkunde so vermittelt. Die Kolumnistin und Aktivistin Jessica Sigerist widmet sich in ihrem Blog der Frage, wieviel Sex und Kinderkriegen miteinander zu tun haben und schreibt dazu:

«Sieht fast so aus, als würde die Gleichung Sex = Fortpflanzung nicht ganz aufgehen. Oder anders gesagt: Wenn die evolutionäre Hauptfunktion von Sex tatsächlich die Fortpflanzung ist, dann hat Sex eigentlich ziemlich versagt. So 1000 mal Sex haben und dabei 1 Kind kriegen? Echt miese Trefferquote, Sex!» Die Schlussfolgerung: Sexualität ist nur selten Fortpflanzung/Reproduktion, sondern meistens eine soziale Interaktion, die vielen Bedürfnisse entspringen kann.

Sexualität ist meistens eine soziale Interaktion. (Illustration: David Fürst)

Mythos Selbstverteidigung

Besonders hartnäckig hält sich der Mythos der Selbstverteidigung: «Aber warum hast du dich nicht gewehrt? Warum hast du nicht ‹Nein› gesagt?» Ganz so einfach ist das nicht. So erklärt der Psychologe Jan Gysi in einem Interview mit Amnesty International Schweiz:

«Das Erstarren, auf Englisch ‹Freezing› genannt, ist eine körperliche Reaktion auf akute Bedrohung, die wir alle erleben könnten. Erstarrt eine Person, so kann sich das als Bewegungslosigkeit äussern, als Verlangsamung oder aber auch als sehr automatisierte Bewegungen. Weil auch die Atmung betroffen ist, kann eine erstarrte Person nicht um Hilfe schreien. (…) Unser Hirn ist bei Gefahrensituationen mit der Frage konfrontiert, was gefährlicher sei: Selbstverteidigung oder das Unterdrücken von Abwehrhandlungen. Viele Studien haben gezeigt: Körperlicher Widerstand kann eine Vergewaltigung zwar abwehren, aber dabei steigt das Verletzungsrisiko deutlich. Das Unterdrücken von Abwehrhandlungen macht also kurzfristig Sinn, denn es sichert das Überleben eher. Diese Entscheidung geschieht instinktiv, unabhängig vom Willen und Wissen einer Person. Jemand kann einen schwarzen Gürtel in Karate haben und erstarrt trotzdem. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass bei 37 bis 70 Prozent der von sexualisierter Gewalt Betroffenen diese Reaktion eintritt.»

Konsens

Stellt sich also zuletzt die Frage: Reicht dieser Gegenvorschlag des Ständerats?

Die Erwartungshaltung des Ständerats ist unrealistisch: Sie verlangt von allen Beteiligten, sich jederzeit zur Wehr setzen zu können und nonverbal zu verstehen, was unser Gegenüber im Bett will. Vielleicht ist es also an der Zeit, dass wir uns nicht mehr überlegen müssen, was wir nicht wollen, sondern eine Sprache entwickeln, die es uns erlaubt zwischen beidem zu unterscheiden. Eine «nur Ja ist Ja»-Lösung schützt das Recht auf eine selbstbestimmte konsensbasierte Sexualität.

 

Im Text wird der Begriff Frau verwendet, weil im Diskurs um das Sexualstrafrecht auch die Begriffe Frau und Mann verwendet werden. Personen ausserhalb des binären Geschlechtsmodells werden bis jetzt vom Recht nicht angeführt, daher ist es nicht möglich abzuschätzen, was das Gesetz für Auswirkungen auf sie hat.